Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Jn mehr als einer Sprache hat also auch
Wort, und Vernunft, Begriff und Wort,
Sprache
und Ursache einen Namen, und diese
Synonymie enthält ihren ganzen genetischen Ur-
sprung. Bei den Morgenländern ists der gewöhn-
lichste Jdiotismus geworden, das Anerkennen
einer Sache Namengebung zu nennen: denn
im Grunde der Seele sind beide Handlungen Eins.
Sie nennen den Menschen das redende Thier,
und die unvernünftigen Thiere die Stummen:
der Ausdruck ist sinnlich Charakteristisch: und das
griechische alogos fasset beides. Es wird so nach
die Sprache ein natürliches Organ des Ver-
standes,
ein solcher Sinn der menschlichen
Seele,
wie sich die Sehekraft jener sensitiven Seele
der Alten das Auge, und der Jnstinkt der Biene
seine Zelle bauet.

Vortreflich daß dieser neue, selbst gemachte
Sinn des Geistes gleich in seinem Ursprunge wie-
der ein Mittel der Verbindung ist -- Jch kann
nicht den ersten menschlichen Gedanken denken,
nicht das erste besonnene Urtheil reihen, ohne daß

ich
E 5

Jn mehr als einer Sprache hat alſo auch
Wort, und Vernunft, Begriff und Wort,
Sprache
und Urſache einen Namen, und dieſe
Synonymie enthaͤlt ihren ganzen genetiſchen Ur-
ſprung. Bei den Morgenlaͤndern iſts der gewoͤhn-
lichſte Jdiotismus geworden, das Anerkennen
einer Sache Namengebung zu nennen: denn
im Grunde der Seele ſind beide Handlungen Eins.
Sie nennen den Menſchen das redende Thier,
und die unvernuͤnftigen Thiere die Stummen:
der Ausdruck iſt ſinnlich Charakteriſtiſch: und das
griechiſche ἄλογος faſſet beides. Es wird ſo nach
die Sprache ein natuͤrliches Organ des Ver-
ſtandes,
ein ſolcher Sinn der menſchlichen
Seele,
wie ſich die Sehekraft jener ſenſitiven Seele
der Alten das Auge, und der Jnſtinkt der Biene
ſeine Zelle bauet.

Vortreflich daß dieſer neue, ſelbſt gemachte
Sinn des Geiſtes gleich in ſeinem Urſprunge wie-
der ein Mittel der Verbindung iſt — Jch kann
nicht den erſten menſchlichen Gedanken denken,
nicht das erſte beſonnene Urtheil reihen, ohne daß

ich
E 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0079" n="73"/>
          <p>Jn mehr als einer Sprache hat al&#x017F;o auch<lb/><hi rendition="#fr">Wort,</hi> und <hi rendition="#fr">Vernunft, Begriff</hi> und <hi rendition="#fr">Wort,<lb/>
Sprache</hi> und <hi rendition="#fr">Ur&#x017F;ache</hi> einen Namen, und die&#x017F;e<lb/>
Synonymie entha&#x0364;lt ihren ganzen geneti&#x017F;chen Ur-<lb/>
&#x017F;prung. Bei den Morgenla&#x0364;ndern i&#x017F;ts der gewo&#x0364;hn-<lb/>
lich&#x017F;te Jdiotismus geworden, das <hi rendition="#fr">Anerkennen</hi><lb/>
einer Sache <hi rendition="#fr">Namengebung</hi> zu nennen: denn<lb/>
im Grunde der Seele &#x017F;ind beide Handlungen Eins.<lb/>
Sie nennen den Men&#x017F;chen das <hi rendition="#fr">redende</hi> Thier,<lb/>
und die unvernu&#x0364;nftigen Thiere die <hi rendition="#fr">Stummen:</hi><lb/>
der Ausdruck i&#x017F;t &#x017F;innlich Charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch: und das<lb/>
griechi&#x017F;che &#x1F04;&#x03BB;&#x03BF;&#x03B3;&#x03BF;&#x03C2; fa&#x017F;&#x017F;et beides. Es wird &#x017F;o nach<lb/>
die Sprache ein <hi rendition="#fr">natu&#x0364;rliches Organ des Ver-<lb/>
&#x017F;tandes,</hi> ein &#x017F;olcher <hi rendition="#fr">Sinn der men&#x017F;chlichen<lb/>
Seele,</hi> wie &#x017F;ich die Sehekraft jener &#x017F;en&#x017F;itiven Seele<lb/>
der Alten das Auge, und der Jn&#x017F;tinkt der Biene<lb/>
&#x017F;eine Zelle bauet.</p><lb/>
          <p>Vortreflich daß die&#x017F;er neue, &#x017F;elb&#x017F;t gemachte<lb/>
Sinn des Gei&#x017F;tes gleich in &#x017F;einem Ur&#x017F;prunge wie-<lb/>
der ein Mittel der Verbindung i&#x017F;t &#x2014; Jch kann<lb/>
nicht den er&#x017F;ten men&#x017F;chlichen Gedanken denken,<lb/>
nicht das er&#x017F;te be&#x017F;onnene Urtheil reihen, ohne daß<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E 5</fw><fw place="bottom" type="catch">ich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[73/0079] Jn mehr als einer Sprache hat alſo auch Wort, und Vernunft, Begriff und Wort, Sprache und Urſache einen Namen, und dieſe Synonymie enthaͤlt ihren ganzen genetiſchen Ur- ſprung. Bei den Morgenlaͤndern iſts der gewoͤhn- lichſte Jdiotismus geworden, das Anerkennen einer Sache Namengebung zu nennen: denn im Grunde der Seele ſind beide Handlungen Eins. Sie nennen den Menſchen das redende Thier, und die unvernuͤnftigen Thiere die Stummen: der Ausdruck iſt ſinnlich Charakteriſtiſch: und das griechiſche ἄλογος faſſet beides. Es wird ſo nach die Sprache ein natuͤrliches Organ des Ver- ſtandes, ein ſolcher Sinn der menſchlichen Seele, wie ſich die Sehekraft jener ſenſitiven Seele der Alten das Auge, und der Jnſtinkt der Biene ſeine Zelle bauet. Vortreflich daß dieſer neue, ſelbſt gemachte Sinn des Geiſtes gleich in ſeinem Urſprunge wie- der ein Mittel der Verbindung iſt — Jch kann nicht den erſten menſchlichen Gedanken denken, nicht das erſte beſonnene Urtheil reihen, ohne daß ich E 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/79
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/79>, abgerufen am 22.11.2024.