blicke sein Loos, wie sie es im lezten seyn wird. Die Vernunft äußert sich unter seiner Sinnlichkeit schon so würklich, daß der Allwissende, der diese Seele schuff, in ihrem ersten Zustande schon das ganze Gewebe von Handlungen des Lebens sahe, wie etwa der Meßkünstler nach gegebner Classe aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver- hältniß derselben findet.
"Aber so war doch diese Vernunft damals mehr "Vernunftfähigkeit (Reflexion en puissance) als "würkliche Kraft?" Die Ausnahme sagt kein Wort. Bloße, nackte Fähigkeit, die auch ohne vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als Fähigkeit sey, ist so ein tauber Schall, als Plas- tische Formen, die da formen, aber selbst keine Formen sind. Jst mit der Fähigkeit nicht das ge- ringste Positive zu einer Tendenz da: so ist nichts da -- so ist das Wort blos Abstraktion der Schule. Der neuere französische Philosoph, *) der diese reflexion en puissance, diesen Scheinbegrif so blen- dend gemacht, hat, wie wir sehen werden, immer
nur
*) Rousseau über die Ungleichheit etc.
D
blicke ſein Loos, wie ſie es im lezten ſeyn wird. Die Vernunft aͤußert ſich unter ſeiner Sinnlichkeit ſchon ſo wuͤrklich, daß der Allwiſſende, der dieſe Seele ſchuff, in ihrem erſten Zuſtande ſchon das ganze Gewebe von Handlungen des Lebens ſahe, wie etwa der Meßkuͤnſtler nach gegebner Claſſe aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver- haͤltniß derſelben findet.
„Aber ſo war doch dieſe Vernunft damals mehr „Vernunftfaͤhigkeit (Réflexion en puiſſance) als „wuͤrkliche Kraft?„ Die Ausnahme ſagt kein Wort. Bloße, nackte Faͤhigkeit, die auch ohne vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als Faͤhigkeit ſey, iſt ſo ein tauber Schall, als Plas- tiſche Formen, die da formen, aber ſelbſt keine Formen ſind. Jſt mit der Faͤhigkeit nicht das ge- ringſte Poſitive zu einer Tendenz da: ſo iſt nichts da — ſo iſt das Wort blos Abſtraktion der Schule. Der neuere franzoͤſiſche Philoſoph, *) der dieſe réflexion en puiſſance, dieſen Scheinbegrif ſo blen- dend gemacht, hat, wie wir ſehen werden, immer
nur
*) Rouſſeau über die Ungleichheit ꝛc.
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blicke ſein Loos, wie ſie es im lezten ſeyn wird.
Die Vernunft aͤußert ſich unter ſeiner Sinnlichkeit
ſchon ſo wuͤrklich, daß der Allwiſſende, der dieſe
Seele ſchuff, in ihrem erſten Zuſtande ſchon das
ganze Gewebe von Handlungen des Lebens ſahe,
wie etwa der Meßkuͤnſtler nach gegebner Claſſe
aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver-
haͤltniß derſelben findet.
„Aber ſo war doch dieſe Vernunft damals mehr
„Vernunftfaͤhigkeit (Réflexion en puiſſance) als
„wuͤrkliche Kraft?„ Die Ausnahme ſagt kein
Wort. Bloße, nackte Faͤhigkeit, die auch ohne
vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als
Faͤhigkeit ſey, iſt ſo ein tauber Schall, als Plas-
tiſche Formen, die da formen, aber ſelbſt keine
Formen ſind. Jſt mit der Faͤhigkeit nicht das ge-
ringſte Poſitive zu einer Tendenz da: ſo iſt nichts
da — ſo iſt das Wort blos Abſtraktion der Schule.
Der neuere franzoͤſiſche Philoſoph, *) der dieſe
réflexion en puiſſance, dieſen Scheinbegrif ſo blen-
dend gemacht, hat, wie wir ſehen werden, immer
nur
*) Rouſſeau über die Ungleichheit ꝛc.
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/55>, abgerufen am 22.07.2024.
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