Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

blicke sein Loos, wie sie es im lezten seyn wird.
Die Vernunft äußert sich unter seiner Sinnlichkeit
schon so würklich, daß der Allwissende, der diese
Seele schuff, in ihrem ersten Zustande schon das
ganze Gewebe von Handlungen des Lebens sahe,
wie etwa der Meßkünstler nach gegebner Classe
aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver-
hältniß derselben findet.

"Aber so war doch diese Vernunft damals mehr
"Vernunftfähigkeit (Reflexion en puissance) als
"würkliche Kraft?" Die Ausnahme sagt kein
Wort. Bloße, nackte Fähigkeit, die auch ohne
vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als
Fähigkeit sey, ist so ein tauber Schall, als Plas-
tische Formen, die da formen, aber selbst keine
Formen sind. Jst mit der Fähigkeit nicht das ge-
ringste Positive zu einer Tendenz da: so ist nichts
da -- so ist das Wort blos Abstraktion der Schule.
Der neuere französische Philosoph, *) der diese
reflexion en puissance, diesen Scheinbegrif so blen-
dend gemacht, hat, wie wir sehen werden, immer

nur
*) Rousseau über die Ungleichheit etc.
D

blicke ſein Loos, wie ſie es im lezten ſeyn wird.
Die Vernunft aͤußert ſich unter ſeiner Sinnlichkeit
ſchon ſo wuͤrklich, daß der Allwiſſende, der dieſe
Seele ſchuff, in ihrem erſten Zuſtande ſchon das
ganze Gewebe von Handlungen des Lebens ſahe,
wie etwa der Meßkuͤnſtler nach gegebner Claſſe
aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver-
haͤltniß derſelben findet.

„Aber ſo war doch dieſe Vernunft damals mehr
„Vernunftfaͤhigkeit (Réflexion en puiſſance) als
„wuͤrkliche Kraft?„ Die Ausnahme ſagt kein
Wort. Bloße, nackte Faͤhigkeit, die auch ohne
vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als
Faͤhigkeit ſey, iſt ſo ein tauber Schall, als Plas-
tiſche Formen, die da formen, aber ſelbſt keine
Formen ſind. Jſt mit der Faͤhigkeit nicht das ge-
ringſte Poſitive zu einer Tendenz da: ſo iſt nichts
da — ſo iſt das Wort blos Abſtraktion der Schule.
Der neuere franzoͤſiſche Philoſoph, *) der dieſe
réflexion en puiſſance, dieſen Scheinbegrif ſo blen-
dend gemacht, hat, wie wir ſehen werden, immer

nur
*) Rouſſeau über die Ungleichheit ꝛc.
D
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="49"/><hi rendition="#fr">blicke</hi> &#x017F;ein Loos, wie &#x017F;ie es im <hi rendition="#fr">lezten</hi> &#x017F;eyn wird.<lb/>
Die Vernunft a&#x0364;ußert &#x017F;ich unter &#x017F;einer Sinnlichkeit<lb/>
&#x017F;chon &#x017F;o wu&#x0364;rklich, daß der Allwi&#x017F;&#x017F;ende, der die&#x017F;e<lb/>
Seele &#x017F;chuff, in ihrem er&#x017F;ten Zu&#x017F;tande &#x017F;chon das<lb/>
ganze Gewebe von Handlungen des Lebens &#x017F;ahe,<lb/>
wie etwa der Meßku&#x0364;n&#x017F;tler nach gegebner Cla&#x017F;&#x017F;e<lb/>
aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver-<lb/>
ha&#x0364;ltniß der&#x017F;elben findet.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Aber &#x017F;o war doch die&#x017F;e Vernunft damals mehr<lb/>
&#x201E;Vernunftfa&#x0364;higkeit (<hi rendition="#aq">Réflexion en pui&#x017F;&#x017F;ance</hi>) als<lb/>
&#x201E;wu&#x0364;rkliche Kraft?&#x201E; Die Ausnahme &#x017F;agt kein<lb/>
Wort. Bloße, nackte Fa&#x0364;higkeit, die auch ohne<lb/>
vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als<lb/>
Fa&#x0364;higkeit &#x017F;ey, i&#x017F;t &#x017F;o ein tauber Schall, als Plas-<lb/>
ti&#x017F;che Formen, die da formen, aber &#x017F;elb&#x017F;t keine<lb/>
Formen &#x017F;ind. J&#x017F;t mit der Fa&#x0364;higkeit nicht das ge-<lb/>
ring&#x017F;te Po&#x017F;itive zu einer Tendenz da: &#x017F;o i&#x017F;t nichts<lb/>
da &#x2014; &#x017F;o i&#x017F;t das Wort blos Ab&#x017F;traktion der Schule.<lb/>
Der neuere franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Philo&#x017F;oph, <note place="foot" n="*)">Rou&#x017F;&#x017F;eau über die Ungleichheit &#xA75B;c.</note> der die&#x017F;e<lb/><hi rendition="#aq">réflexion en pui&#x017F;&#x017F;ance,</hi> die&#x017F;en Scheinbegrif &#x017F;o blen-<lb/>
dend gemacht, hat, wie wir &#x017F;ehen werden, immer<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">nur</fw><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">D</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[49/0055] blicke ſein Loos, wie ſie es im lezten ſeyn wird. Die Vernunft aͤußert ſich unter ſeiner Sinnlichkeit ſchon ſo wuͤrklich, daß der Allwiſſende, der dieſe Seele ſchuff, in ihrem erſten Zuſtande ſchon das ganze Gewebe von Handlungen des Lebens ſahe, wie etwa der Meßkuͤnſtler nach gegebner Claſſe aus einem Gliede der Progreßion das ganze Ver- haͤltniß derſelben findet. „Aber ſo war doch dieſe Vernunft damals mehr „Vernunftfaͤhigkeit (Réflexion en puiſſance) als „wuͤrkliche Kraft?„ Die Ausnahme ſagt kein Wort. Bloße, nackte Faͤhigkeit, die auch ohne vorliegendes Hinderniß keine Kraft, nichts als Faͤhigkeit ſey, iſt ſo ein tauber Schall, als Plas- tiſche Formen, die da formen, aber ſelbſt keine Formen ſind. Jſt mit der Faͤhigkeit nicht das ge- ringſte Poſitive zu einer Tendenz da: ſo iſt nichts da — ſo iſt das Wort blos Abſtraktion der Schule. Der neuere franzoͤſiſche Philoſoph, *) der dieſe réflexion en puiſſance, dieſen Scheinbegrif ſo blen- dend gemacht, hat, wie wir ſehen werden, immer nur *) Rouſſeau über die Ungleichheit ꝛc. D

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/55
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/55>, abgerufen am 06.05.2024.