Da nun die meisten Verfechter der menschli- chen Sprachwerdung aus einem so unsichern Ort stritten, den andre, z. E. Süßmilch, mit so vie- lem Grunde bekämpften: So hat die Akademie diese Frage, die also noch ganz unbeantwortet ist, und über die sich selbst einige ihrer gewesnen Mit- glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge- sezt sehen.
Und da dies große Thema so viel Aussichten in die Psychologie und Naturordnung des mensch- lichen Geschlechts, in die Philosophie der Spra- chen und aller Känntnisse, die mit Sprache erfun- den werden, verspricht -- Wer wollte sich nicht daran versuchen?
Und da die Menschen für uns die einzigen Sprachgeschöpfe sind, die wir kennen, und sich eben durch Sprache von allen Thieren unterscheiden: wo finge der Weg der Untersuchung sicherer an, als bei Erfahrungen über den Unterschied der Thiere und Menschen? -- Condillac und Rousseau mußten über den Sprachursprung irren, weil sie sich über diesen Unterschied so bekannt und verschie-
den
Da nun die meiſten Verfechter der menſchli- chen Sprachwerdung aus einem ſo unſichern Ort ſtritten, den andre, z. E. Suͤßmilch, mit ſo vie- lem Grunde bekaͤmpften: So hat die Akademie dieſe Frage, die alſo noch ganz unbeantwortet iſt, und uͤber die ſich ſelbſt einige ihrer geweſnen Mit- glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge- ſezt ſehen.
Und da dies große Thema ſo viel Ausſichten in die Pſychologie und Naturordnung des menſch- lichen Geſchlechts, in die Philoſophie der Spra- chen und aller Kaͤnntniſſe, die mit Sprache erfun- den werden, verſpricht — Wer wollte ſich nicht daran verſuchen?
Und da die Menſchen fuͤr uns die einzigen Sprachgeſchoͤpfe ſind, die wir kennen, und ſich eben durch Sprache von allen Thieren unterſcheiden: wo finge der Weg der Unterſuchung ſicherer an, als bei Erfahrungen uͤber den Unterſchied der Thiere und Menſchen? — Condillac und Rouſſeau mußten uͤber den Sprachurſprung irren, weil ſie ſich uͤber dieſen Unterſchied ſo bekannt und verſchie-
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Da nun die meiſten Verfechter der menſchli-
chen Sprachwerdung aus einem ſo unſichern Ort
ſtritten, den andre, z. E. Suͤßmilch, mit ſo vie-
lem Grunde bekaͤmpften: So hat die Akademie
dieſe Frage, die alſo noch ganz unbeantwortet iſt,
und uͤber die ſich ſelbſt einige ihrer geweſnen Mit-
glieder getheilt, einmal außer Streit wollen ge-
ſezt ſehen.
Und da dies große Thema ſo viel Ausſichten
in die Pſychologie und Naturordnung des menſch-
lichen Geſchlechts, in die Philoſophie der Spra-
chen und aller Kaͤnntniſſe, die mit Sprache erfun-
den werden, verſpricht — Wer wollte ſich nicht
daran verſuchen?
Und da die Menſchen fuͤr uns die einzigen
Sprachgeſchoͤpfe ſind, die wir kennen, und ſich eben
durch Sprache von allen Thieren unterſcheiden:
wo finge der Weg der Unterſuchung ſicherer an,
als bei Erfahrungen uͤber den Unterſchied der Thiere
und Menſchen? — Condillac und Rouſſeau
mußten uͤber den Sprachurſprung irren, weil ſie
ſich uͤber dieſen Unterſchied ſo bekannt und verſchie-
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/36>, abgerufen am 03.07.2024.
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