Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

als ein Mensch, und das ganze menschliche
Geschlecht
mehr als ein einzelnes Volk er-
finde;
und das zwar nicht blos nach Menge
der Köpfe,
sondern nach vielfach- und innig
vermehrtern Verhältnissen.
Man sollte den-
ken, daß ein einsamer Mensch, ohne drängende
Bedürfnisse, mit aller Gemächlichkeit der Lebens-
art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß seine
Muße ihn dazu antreiben werde, seine Seelen-
kräfte zu üben, mithin immer etwas neues zu er-
denken u. s. w. Allein das Gegentheil ist klar.
Er wird ohne Gesellschaft immer auf gewisse Weise
verwildern, und bald in Unthätigkeit ermatten,
wenn er sich nur erst in den Mittelpunkt gesezt
hat, seine nöthigsten Bedürfnisse zu befriedigen.
Er ist immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln
gerissen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt
und welkt -- -- sezt ihn in Gesellschaft und meh-
rere Bedürfnisse: er habe für sich und andre zu
sorgen; man sollte denken, diese neue Lasten neh-
men ihm die Freiheit sich empor zu heben; dieser
Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin-
den; aber gerade umgekehrt. Das Bedürfniß
strengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die
Rastlosigkeit hält seine Seele in Bewegung: er
wird desto mehr thun, je wundersamer es wird,
daß ers thue. So wächst also die Fortbildung

einer
O 3

als ein Menſch, und das ganze menſchliche
Geſchlecht
mehr als ein einzelnes Volk er-
finde;
und das zwar nicht blos nach Menge
der Koͤpfe,
ſondern nach vielfach- und innig
vermehrtern Verhaͤltniſſen.
Man ſollte den-
ken, daß ein einſamer Menſch, ohne draͤngende
Beduͤrfniſſe, mit aller Gemaͤchlichkeit der Lebens-
art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß ſeine
Muße ihn dazu antreiben werde, ſeine Seelen-
kraͤfte zu uͤben, mithin immer etwas neues zu er-
denken u. ſ. w. Allein das Gegentheil iſt klar.
Er wird ohne Geſellſchaft immer auf gewiſſe Weiſe
verwildern, und bald in Unthaͤtigkeit ermatten,
wenn er ſich nur erſt in den Mittelpunkt geſezt
hat, ſeine noͤthigſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen.
Er iſt immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln
geriſſen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt
und welkt — — ſezt ihn in Geſellſchaft und meh-
rere Beduͤrfniſſe: er habe fuͤr ſich und andre zu
ſorgen; man ſollte denken, dieſe neue Laſten neh-
men ihm die Freiheit ſich empor zu heben; dieſer
Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin-
den; aber gerade umgekehrt. Das Beduͤrfniß
ſtrengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die
Raſtloſigkeit haͤlt ſeine Seele in Bewegung: er
wird deſto mehr thun, je wunderſamer es wird,
daß ers thue. So waͤchſt alſo die Fortbildung

einer
O 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0219" n="213"/><hi rendition="#fr">als ein Men&#x017F;ch,</hi> und <hi rendition="#fr">das ganze men&#x017F;chliche<lb/>
Ge&#x017F;chlecht</hi> mehr <hi rendition="#fr">als ein einzelnes Volk er-<lb/>
finde;</hi> und das zwar nicht blos <hi rendition="#fr">nach Menge<lb/>
der Ko&#x0364;pfe,</hi> &#x017F;ondern <hi rendition="#fr">nach vielfach-</hi> und <hi rendition="#fr">innig<lb/>
vermehrtern Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;en.</hi> Man &#x017F;ollte den-<lb/>
ken, daß ein ein&#x017F;amer Men&#x017F;ch, ohne dra&#x0364;ngende<lb/>
Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e, mit aller Gema&#x0364;chlichkeit der Lebens-<lb/>
art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß &#x017F;eine<lb/>
Muße ihn dazu antreiben werde, &#x017F;eine Seelen-<lb/>
kra&#x0364;fte zu u&#x0364;ben, mithin immer etwas neues zu er-<lb/>
denken u. &#x017F;. w. Allein das Gegentheil i&#x017F;t klar.<lb/>
Er wird ohne Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft immer auf gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e<lb/>
verwildern, und bald in Untha&#x0364;tigkeit ermatten,<lb/>
wenn er &#x017F;ich nur er&#x017F;t in den Mittelpunkt ge&#x017F;ezt<lb/>
hat, &#x017F;eine no&#x0364;thig&#x017F;ten Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e zu befriedigen.<lb/>
Er i&#x017F;t immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln<lb/>
geri&#x017F;&#x017F;en, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt<lb/>
und welkt &#x2014; &#x2014; &#x017F;ezt ihn in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und meh-<lb/>
rere Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e: er habe fu&#x0364;r &#x017F;ich und andre zu<lb/>
&#x017F;orgen; man &#x017F;ollte denken, die&#x017F;e neue La&#x017F;ten neh-<lb/>
men ihm die Freiheit &#x017F;ich empor zu heben; die&#x017F;er<lb/>
Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin-<lb/>
den; aber gerade umgekehrt. Das Bedu&#x0364;rfniß<lb/>
&#x017F;trengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die<lb/>
Ra&#x017F;tlo&#x017F;igkeit ha&#x0364;lt &#x017F;eine Seele in Bewegung: er<lb/>
wird de&#x017F;to mehr thun, je wunder&#x017F;amer es wird,<lb/>
daß ers thue. So wa&#x0364;ch&#x017F;t al&#x017F;o <hi rendition="#fr">die Fortbildung</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">O 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">einer</hi></fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0219] als ein Menſch, und das ganze menſchliche Geſchlecht mehr als ein einzelnes Volk er- finde; und das zwar nicht blos nach Menge der Koͤpfe, ſondern nach vielfach- und innig vermehrtern Verhaͤltniſſen. Man ſollte den- ken, daß ein einſamer Menſch, ohne draͤngende Beduͤrfniſſe, mit aller Gemaͤchlichkeit der Lebens- art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß ſeine Muße ihn dazu antreiben werde, ſeine Seelen- kraͤfte zu uͤben, mithin immer etwas neues zu er- denken u. ſ. w. Allein das Gegentheil iſt klar. Er wird ohne Geſellſchaft immer auf gewiſſe Weiſe verwildern, und bald in Unthaͤtigkeit ermatten, wenn er ſich nur erſt in den Mittelpunkt geſezt hat, ſeine noͤthigſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen. Er iſt immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln geriſſen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt und welkt — — ſezt ihn in Geſellſchaft und meh- rere Beduͤrfniſſe: er habe fuͤr ſich und andre zu ſorgen; man ſollte denken, dieſe neue Laſten neh- men ihm die Freiheit ſich empor zu heben; dieſer Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin- den; aber gerade umgekehrt. Das Beduͤrfniß ſtrengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die Raſtloſigkeit haͤlt ſeine Seele in Bewegung: er wird deſto mehr thun, je wunderſamer es wird, daß ers thue. So waͤchſt alſo die Fortbildung einer O 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/219
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/219>, abgerufen am 25.11.2024.