Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

mithin das Ganze dieser Zustände; würkt immer
auf andre; verändert auch in diesen etwas --
der erste Gedanke in der ersten menschlichen Seele
hängt mit dem lezten in der lezten menschlichen
Seele zusammen.

Wäre Sprache dem Menschen so angebohren,
als den Bienen der Honigban; so zerfiele mit Ein-
mal dies größeste prächtigste Gebäude in Trüm-
mern! Jeder brachte sich sein wenig Sprache auf
die Welt, oder da doch das auf die Welt bringen,
für eine Vernunft nichts heißt, als sie sich gleich
erfinden -- welch ein trauriges Einzelne wird je-
der Mensch! Jeder erfindet seine Rudimente,
stirbt über ihnen, und nimmt sie ins Grab, wie
die Biene ihren Kunstbau: der Nachfolger kommt,
quält sich über derselben Anfängen, kommt eben
so weit, oder eben so wenig weit, stirbt -- und
so gehts ins Unendliche. Man siehet, "der Plan,
"der über die Thiere geht, die nichts erfinden,
"kann nicht über Geschöpfe gehen, die erfinden
"müssen," oder es wird ein planloser Plan! Er-
findet jedes für sich allein, so wird unnütze Mühe
ins Unendliche verdoppelt, und der erfindende Ver-

stand

mithin das Ganze dieſer Zuſtaͤnde; wuͤrkt immer
auf andre; veraͤndert auch in dieſen etwas
der erſte Gedanke in der erſten menſchlichen Seele
haͤngt mit dem lezten in der lezten menſchlichen
Seele zuſammen.

Waͤre Sprache dem Menſchen ſo angebohren,
als den Bienen der Honigban; ſo zerfiele mit Ein-
mal dies groͤßeſte praͤchtigſte Gebaͤude in Truͤm-
mern! Jeder brachte ſich ſein wenig Sprache auf
die Welt, oder da doch das auf die Welt bringen,
fuͤr eine Vernunft nichts heißt, als ſie ſich gleich
erfinden — welch ein trauriges Einzelne wird je-
der Menſch! Jeder erfindet ſeine Rudimente,
ſtirbt uͤber ihnen, und nimmt ſie ins Grab, wie
die Biene ihren Kunſtbau: der Nachfolger kommt,
quaͤlt ſich uͤber derſelben Anfaͤngen, kommt eben
ſo weit, oder eben ſo wenig weit, ſtirbt — und
ſo gehts ins Unendliche. Man ſiehet, „der Plan,
„der uͤber die Thiere geht, die nichts erfinden,
„kann nicht uͤber Geſchoͤpfe gehen, die erfinden
„muͤſſen,„ oder es wird ein planloſer Plan! Er-
findet jedes fuͤr ſich allein, ſo wird unnuͤtze Muͤhe
ins Unendliche verdoppelt, und der erfindende Ver-

ſtand
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0211" n="205"/>
mithin das <hi rendition="#fr">Ganze</hi> die&#x017F;er Zu&#x017F;ta&#x0364;nde; wu&#x0364;rkt immer<lb/><hi rendition="#fr">auf andre;</hi> vera&#x0364;ndert auch <hi rendition="#fr">in die&#x017F;en etwas</hi> &#x2014;<lb/>
der er&#x017F;te Gedanke in der er&#x017F;ten men&#x017F;chlichen Seele<lb/>
ha&#x0364;ngt mit dem lezten in der lezten men&#x017F;chlichen<lb/>
Seele zu&#x017F;ammen.</p><lb/>
          <p>Wa&#x0364;re Sprache dem Men&#x017F;chen &#x017F;o angebohren,<lb/>
als den Bienen der Honigban; &#x017F;o zerfiele mit Ein-<lb/>
mal dies gro&#x0364;ße&#x017F;te pra&#x0364;chtig&#x017F;te Geba&#x0364;ude in Tru&#x0364;m-<lb/>
mern! Jeder brachte &#x017F;ich <hi rendition="#fr">&#x017F;ein wenig</hi> Sprache auf<lb/>
die Welt, oder da doch das auf die Welt bringen,<lb/>
fu&#x0364;r eine Vernunft nichts heißt, als &#x017F;ie &#x017F;ich gleich<lb/>
erfinden &#x2014; welch ein trauriges Einzelne wird je-<lb/>
der Men&#x017F;ch! Jeder erfindet <hi rendition="#fr">&#x017F;eine</hi> Rudimente,<lb/>
&#x017F;tirbt u&#x0364;ber ihnen, und nimmt &#x017F;ie ins Grab, wie<lb/>
die Biene ihren Kun&#x017F;tbau: der Nachfolger kommt,<lb/>
qua&#x0364;lt &#x017F;ich u&#x0364;ber <hi rendition="#fr">der&#x017F;elben</hi> Anfa&#x0364;ngen, kommt eben<lb/>
&#x017F;o weit, oder eben &#x017F;o wenig weit, &#x017F;tirbt &#x2014; und<lb/>
&#x017F;o gehts ins Unendliche. Man &#x017F;iehet, &#x201E;der Plan,<lb/>
&#x201E;der u&#x0364;ber die Thiere geht, die nichts erfinden,<lb/>
&#x201E;kann nicht u&#x0364;ber Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe gehen, die erfinden<lb/>
&#x201E;mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,&#x201E; oder es wird ein planlo&#x017F;er Plan! Er-<lb/>
findet jedes fu&#x0364;r &#x017F;ich allein, &#x017F;o wird unnu&#x0364;tze Mu&#x0364;he<lb/>
ins Unendliche verdoppelt, und der erfindende Ver-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;tand</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[205/0211] mithin das Ganze dieſer Zuſtaͤnde; wuͤrkt immer auf andre; veraͤndert auch in dieſen etwas — der erſte Gedanke in der erſten menſchlichen Seele haͤngt mit dem lezten in der lezten menſchlichen Seele zuſammen. Waͤre Sprache dem Menſchen ſo angebohren, als den Bienen der Honigban; ſo zerfiele mit Ein- mal dies groͤßeſte praͤchtigſte Gebaͤude in Truͤm- mern! Jeder brachte ſich ſein wenig Sprache auf die Welt, oder da doch das auf die Welt bringen, fuͤr eine Vernunft nichts heißt, als ſie ſich gleich erfinden — welch ein trauriges Einzelne wird je- der Menſch! Jeder erfindet ſeine Rudimente, ſtirbt uͤber ihnen, und nimmt ſie ins Grab, wie die Biene ihren Kunſtbau: der Nachfolger kommt, quaͤlt ſich uͤber derſelben Anfaͤngen, kommt eben ſo weit, oder eben ſo wenig weit, ſtirbt — und ſo gehts ins Unendliche. Man ſiehet, „der Plan, „der uͤber die Thiere geht, die nichts erfinden, „kann nicht uͤber Geſchoͤpfe gehen, die erfinden „muͤſſen,„ oder es wird ein planloſer Plan! Er- findet jedes fuͤr ſich allein, ſo wird unnuͤtze Muͤhe ins Unendliche verdoppelt, und der erfindende Ver- ſtand

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/211
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/211>, abgerufen am 04.05.2024.