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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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Je lebendiger eine Sprache; je näher sie
ihrem Ursprunge, und also noch in den Zeiten
der Jugend und des Wachsthums ist: desto ver-
änderlicher. Jst sie nur in Büchern da, wo sie
nach Regeln gelernt, nur in Wissenschaften und
nicht im lebendigen Umgange gebraucht wird, wo
sie ihre bestimmte Zahl von Gegenständen und von
Anwendungen hat, wo also ihr Wörterbuch ge-
schlossen, ihre Grammatik geregelt, ihre Sphäre
fixirt ist -- eine solche Sprache kann noch eher
im Merklichen unverändert bleiben, und doch auch
da nur im Merklichen -- --. Allein eine im wil-
den freien Leben, im Reich der großen, weiten
Schöpfung, noch ohne förmlich geprägte Regeln,
noch ohne Bücher und Buchstaben und angenom-
mene Meisterstücke; so dürftig und unvollendet,
um noch täglich bereichert werden zu müssen, und
so jugendlich gelenkig um es noch täglich auf den
ersten Wink der Aufmerksamkeit, auf den ersten
Befehl der Leidenschaft und Empfindung werden
zu können -- sie muß sich verändern in jeder
neuen Welt, die man sieht, in jeder Methode,
nach der man denkt und fortdenkt. Aegyptische

Ge-

Je lebendiger eine Sprache; je naͤher ſie
ihrem Urſprunge, und alſo noch in den Zeiten
der Jugend und des Wachsthums iſt: deſto ver-
aͤnderlicher. Jſt ſie nur in Buͤchern da, wo ſie
nach Regeln gelernt, nur in Wiſſenſchaften und
nicht im lebendigen Umgange gebraucht wird, wo
ſie ihre beſtimmte Zahl von Gegenſtaͤnden und von
Anwendungen hat, wo alſo ihr Woͤrterbuch ge-
ſchloſſen, ihre Grammatik geregelt, ihre Sphaͤre
fixirt iſt — eine ſolche Sprache kann noch eher
im Merklichen unveraͤndert bleiben, und doch auch
da nur im Merklichen — —. Allein eine im wil-
den freien Leben, im Reich der großen, weiten
Schoͤpfung, noch ohne foͤrmlich gepraͤgte Regeln,
noch ohne Buͤcher und Buchſtaben und angenom-
mene Meiſterſtuͤcke; ſo duͤrftig und unvollendet,
um noch taͤglich bereichert werden zu muͤſſen, und
ſo jugendlich gelenkig um es noch taͤglich auf den
erſten Wink der Aufmerkſamkeit, auf den erſten
Befehl der Leidenſchaft und Empfindung werden
zu koͤnnen — ſie muß ſich veraͤndern in jeder
neuen Welt, die man ſieht, in jeder Methode,
nach der man denkt und fortdenkt. Aegyptiſche

Ge-
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[190/0196] Je lebendiger eine Sprache; je naͤher ſie ihrem Urſprunge, und alſo noch in den Zeiten der Jugend und des Wachsthums iſt: deſto ver- aͤnderlicher. Jſt ſie nur in Buͤchern da, wo ſie nach Regeln gelernt, nur in Wiſſenſchaften und nicht im lebendigen Umgange gebraucht wird, wo ſie ihre beſtimmte Zahl von Gegenſtaͤnden und von Anwendungen hat, wo alſo ihr Woͤrterbuch ge- ſchloſſen, ihre Grammatik geregelt, ihre Sphaͤre fixirt iſt — eine ſolche Sprache kann noch eher im Merklichen unveraͤndert bleiben, und doch auch da nur im Merklichen — —. Allein eine im wil- den freien Leben, im Reich der großen, weiten Schoͤpfung, noch ohne foͤrmlich gepraͤgte Regeln, noch ohne Buͤcher und Buchſtaben und angenom- mene Meiſterſtuͤcke; ſo duͤrftig und unvollendet, um noch taͤglich bereichert werden zu muͤſſen, und ſo jugendlich gelenkig um es noch taͤglich auf den erſten Wink der Aufmerkſamkeit, auf den erſten Befehl der Leidenſchaft und Empfindung werden zu koͤnnen — ſie muß ſich veraͤndern in jeder neuen Welt, die man ſieht, in jeder Methode, nach der man denkt und fortdenkt. Aegyptiſche Ge-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/196>, abgerufen am 22.11.2024.