Gefühl trift: so ist die Genesis der Sprache ein so inneres Dringniß, wie der Drang des Em- bryons zur Geburt bei dem Moment seiner Reife. Die ganze Natur stürmt auf den Menschen, um seine Sinne zu entwiklen, bis er Mensch sei. Und wie von diesem Zustande die Sprache anfängt, so "ist die ganze Kette von Zuständen in "der menschlichen Seele von der Art, "daß jeder die Sprache fortbildet, -- Dies große Gesetz der Naturordnung will ich ins Licht stellen.
Thiere verbinden ihre Gedanken, dunkel, oder klar, aber nicht deutlich. So wie freilich die Gattungen, die nach Lebensart und Nervenbau dem Menschen am nächsten stehen, die Thiere des Feldes, oft viel Erinnerung, viel Gedächt- niß, und in manchen Fällen ein stärkeres als der Mensch zeigen: so ists nur immer sinnliches Gedächtniß; und keines hat die Erinnerung je durch eine Handlung bewiesen, daß es für sein ganzes Geschlecht seinen Zustand verbessert, und Erfahrungen generalisiret hätte, um sie in der Folge zu nutzen. Der Hund kann frei-
lich
Gefuͤhl trift: ſo iſt die Geneſis der Sprache ein ſo inneres Dringniß, wie der Drang des Em- bryons zur Geburt bei dem Moment ſeiner Reife. Die ganze Natur ſtuͤrmt auf den Menſchen, um ſeine Sinne zu entwiklen, bis er Menſch ſei. Und wie von dieſem Zuſtande die Sprache anfaͤngt, ſo „iſt die ganze Kette von Zuſtaͤnden in „der menſchlichen Seele von der Art, „daß jeder die Sprache fortbildet, — Dies große Geſetz der Naturordnung will ich ins Licht ſtellen.
Thiere verbinden ihre Gedanken, dunkel, oder klar, aber nicht deutlich. So wie freilich die Gattungen, die nach Lebensart und Nervenbau dem Menſchen am naͤchſten ſtehen, die Thiere des Feldes, oft viel Erinnerung, viel Gedaͤcht- niß, und in manchen Faͤllen ein ſtaͤrkeres als der Menſch zeigen: ſo iſts nur immer ſinnliches Gedaͤchtniß; und keines hat die Erinnerung je durch eine Handlung bewieſen, daß es fuͤr ſein ganzes Geſchlecht ſeinen Zuſtand verbeſſert, und Erfahrungen generaliſiret haͤtte, um ſie in der Folge zu nutzen. Der Hund kann frei-
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Gefuͤhl trift: ſo iſt die Geneſis der Sprache ein
ſo inneres Dringniß, wie der Drang des Em-
bryons zur Geburt bei dem Moment ſeiner Reife.
Die ganze Natur ſtuͤrmt auf den Menſchen, um
ſeine Sinne zu entwiklen, bis er Menſch ſei.
Und wie von dieſem Zuſtande die Sprache anfaͤngt,
ſo „iſt die ganze Kette von Zuſtaͤnden in
„der menſchlichen Seele von der Art,
„daß jeder die Sprache fortbildet, —
Dies große Geſetz der Naturordnung will ich ins
Licht ſtellen.
Thiere verbinden ihre Gedanken, dunkel, oder
klar, aber nicht deutlich. So wie freilich die
Gattungen, die nach Lebensart und Nervenbau
dem Menſchen am naͤchſten ſtehen, die Thiere
des Feldes, oft viel Erinnerung, viel Gedaͤcht-
niß, und in manchen Faͤllen ein ſtaͤrkeres als
der Menſch zeigen: ſo iſts nur immer ſinnliches
Gedaͤchtniß; und keines hat die Erinnerung je
durch eine Handlung bewieſen, daß es fuͤr ſein
ganzes Geſchlecht ſeinen Zuſtand verbeſſert,
und Erfahrungen generaliſiret haͤtte, um ſie
in der Folge zu nutzen. Der Hund kann frei-
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/154>, abgerufen am 16.02.2025.
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