der Wehmuth; nehmet sie allein und sie ist ein kalter Wassertropfe! bringet sie unters Mikroscop und -- ich will nicht wissen, was sie da seyn mag! Dieser ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der auf der vom Schmerz verzognen Lippe so rührend stirbt -- sondert ihn ab von allen seinen lebendi- gen Gehülfen und er ist ein leerer Luftstoß. Kanns mit den Tönen der Empfindung anders seyn? Jn ihrem lebendigen Zusammenhange, im ganzen Bilde der würkenden Natur, begleitet von so vie- len andern Erscheinungen sind sie rührend und gnugsam; aber von allen getrennet, herausgerissen, ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern. Die Stimme der Natur ist gemahlter, verwill- kührter Buchstabe. -- -- Wenig sind dieser Sprachtöne freilich; allein die empfindsame Na- tur, so fern sie blos Mechanisch leidet, hat auch weniger Hauptarten der Empfindung, als unsre Psychologien der Seele, als Leidenschaften, anzäh- len oder andichten. Nur jedes Gefühl ist in sol- chem Zustande, je weniger in Fäden zertheilt, ein um so mächtiger anziehendes Band: die Töne re- den nicht viel, aber stark. Ob der Klageton über
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der Wehmuth; nehmet ſie allein und ſie iſt ein kalter Waſſertropfe! bringet ſie unters Mikroſcop und — ich will nicht wiſſen, was ſie da ſeyn mag! Dieſer ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der auf der vom Schmerz verzognen Lippe ſo ruͤhrend ſtirbt — ſondert ihn ab von allen ſeinen lebendi- gen Gehuͤlfen und er iſt ein leerer Luftſtoß. Kanns mit den Toͤnen der Empfindung anders ſeyn? Jn ihrem lebendigen Zuſammenhange, im ganzen Bilde der wuͤrkenden Natur, begleitet von ſo vie- len andern Erſcheinungen ſind ſie ruͤhrend und gnugſam; aber von allen getrennet, herausgeriſſen, ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern. Die Stimme der Natur iſt gemahlter, verwill- kuͤhrter Buchſtabe. — — Wenig ſind dieſer Sprachtoͤne freilich; allein die empfindſame Na- tur, ſo fern ſie blos Mechaniſch leidet, hat auch weniger Hauptarten der Empfindung, als unſre Pſychologien der Seele, als Leidenſchaften, anzaͤh- len oder andichten. Nur jedes Gefuͤhl iſt in ſol- chem Zuſtande, je weniger in Faͤden zertheilt, ein um ſo maͤchtiger anziehendes Band: die Toͤne re- den nicht viel, aber ſtark. Ob der Klageton uͤber
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der Wehmuth; nehmet ſie allein und ſie iſt ein
kalter Waſſertropfe! bringet ſie unters Mikroſcop
und — ich will nicht wiſſen, was ſie da ſeyn mag!
Dieſer ermattende Hauch, der halbe Seufzer, der
auf der vom Schmerz verzognen Lippe ſo ruͤhrend
ſtirbt — ſondert ihn ab von allen ſeinen lebendi-
gen Gehuͤlfen und er iſt ein leerer Luftſtoß. Kanns
mit den Toͤnen der Empfindung anders ſeyn? Jn
ihrem lebendigen Zuſammenhange, im ganzen
Bilde der wuͤrkenden Natur, begleitet von ſo vie-
len andern Erſcheinungen ſind ſie ruͤhrend und
gnugſam; aber von allen getrennet, herausgeriſſen,
ihres Lebens beraubet, freilich nichts als Ziffern.
Die Stimme der Natur iſt gemahlter, verwill-
kuͤhrter Buchſtabe. — — Wenig ſind dieſer
Sprachtoͤne freilich; allein die empfindſame Na-
tur, ſo fern ſie blos Mechaniſch leidet, hat auch
weniger Hauptarten der Empfindung, als unſre
Pſychologien der Seele, als Leidenſchaften, anzaͤh-
len oder andichten. Nur jedes Gefuͤhl iſt in ſol-
chem Zuſtande, je weniger in Faͤden zertheilt, ein
um ſo maͤchtiger anziehendes Band: die Toͤne re-
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/15>, abgerufen am 22.07.2024.
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