Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

durch Farben und Striche werden -- aber tönende
Sprache nie! Wir hörende Geschöpfe stehn in der
Mitte: wir sehen, wir fühlen; aber die gesehene,
gefühlte Natur tönet! Sie wird Lehrmeisterinn
zur Sprache durch Töne! wir werden gleichsam
Gehör durch alle Sinne!

Lasset uns die Bequemlichkeit unsrer Stelle füh-
len -- dadurch wird jeder Sinn sprachfähig.
Freilich gibt Gehör nur eigentlich Töne, und
der Mensch kann nicht erfinden, sondern nur fin-
den, nur nachahmen; allein auf der einen Seite
liegt das Gefühl neben an: auf der andern ist
das Gesicht der nachbarliche Sinn: Die Empfin-
dungen vereinigen sich und kommen also alle der
Gegend nahe, wo Merkmale zu Schällen werden.
So wird, was man sieht, so wird, was man
fühlt, auch tönbar. Der Sinn zur Sprache ist
unser Mittel- und Vereinigungssinn geworden;
wir sind Sprachgeschöpfe.

2) Das Gehör ist der Mittlere unter den Sin-
nen an Deutlichkeit und Klarheit; und also wie-
derum Sinn zur Sprache. Wie dunkel ist das Ge-
fühl!
es wird übertäubt! es empfindet alles in ein-

an-
G 3

durch Farben und Striche werden — aber toͤnende
Sprache nie! Wir hoͤrende Geſchoͤpfe ſtehn in der
Mitte: wir ſehen, wir fuͤhlen; aber die geſehene,
gefuͤhlte Natur toͤnet! Sie wird Lehrmeiſterinn
zur Sprache durch Toͤne! wir werden gleichſam
Gehoͤr durch alle Sinne!

Laſſet uns die Bequemlichkeit unſrer Stelle fuͤh-
len — dadurch wird jeder Sinn ſprachfaͤhig.
Freilich gibt Gehoͤr nur eigentlich Toͤne, und
der Menſch kann nicht erfinden, ſondern nur fin-
den, nur nachahmen; allein auf der einen Seite
liegt das Gefuͤhl neben an: auf der andern iſt
das Geſicht der nachbarliche Sinn: Die Empfin-
dungen vereinigen ſich und kommen alſo alle der
Gegend nahe, wo Merkmale zu Schaͤllen werden.
So wird, was man ſieht, ſo wird, was man
fuͤhlt, auch toͤnbar. Der Sinn zur Sprache iſt
unſer Mittel- und Vereinigungsſinn geworden;
wir ſind Sprachgeſchoͤpfe.

2) Das Gehoͤr iſt der Mittlere unter den Sin-
nen an Deutlichkeit und Klarheit; und alſo wie-
derum Sinn zur Sprache. Wie dunkel iſt das Ge-
fuͤhl!
es wird uͤbertaͤubt! es empfindet alles in ein-

an-
G 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0107" n="101"/>
durch Farben und Striche werden &#x2014; aber to&#x0364;nende<lb/>
Sprache nie! Wir ho&#x0364;rende Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe &#x017F;tehn in der<lb/>
Mitte: wir &#x017F;ehen, wir fu&#x0364;hlen; aber die ge&#x017F;ehene,<lb/>
gefu&#x0364;hlte Natur to&#x0364;net! Sie wird Lehrmei&#x017F;terinn<lb/>
zur Sprache durch To&#x0364;ne! wir werden gleich&#x017F;am<lb/>
Geho&#x0364;r durch alle Sinne!</p><lb/>
            <p>La&#x017F;&#x017F;et uns die Bequemlichkeit un&#x017F;rer Stelle fu&#x0364;h-<lb/>
len &#x2014; dadurch wird <hi rendition="#fr">jeder Sinn &#x017F;prachfa&#x0364;hig.</hi><lb/>
Freilich gibt <hi rendition="#fr">Geho&#x0364;r</hi> nur eigentlich To&#x0364;ne, und<lb/>
der Men&#x017F;ch kann nicht erfinden, &#x017F;ondern nur fin-<lb/>
den, nur nachahmen; allein auf der einen Seite<lb/>
liegt das <hi rendition="#fr">Gefu&#x0364;hl</hi> neben an: auf der andern i&#x017F;t<lb/>
das <hi rendition="#fr">Ge&#x017F;icht</hi> der nachbarliche Sinn: Die Empfin-<lb/>
dungen vereinigen &#x017F;ich und kommen al&#x017F;o alle der<lb/>
Gegend nahe, wo Merkmale zu Scha&#x0364;llen werden.<lb/>
So wird, was man &#x017F;ieht, &#x017F;o wird, was man<lb/>
fu&#x0364;hlt, auch to&#x0364;nbar. Der Sinn zur Sprache i&#x017F;t<lb/>
un&#x017F;er Mittel- und Vereinigungs&#x017F;inn geworden;<lb/>
wir &#x017F;ind Sprachge&#x017F;cho&#x0364;pfe.</p><lb/>
            <p>2) Das Geho&#x0364;r i&#x017F;t der Mittlere unter den Sin-<lb/>
nen <hi rendition="#fr">an Deutlichkeit</hi> und <hi rendition="#fr">Klarheit;</hi> und al&#x017F;o wie-<lb/>
derum Sinn zur Sprache. Wie dunkel i&#x017F;t das <hi rendition="#fr">Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl!</hi> es wird u&#x0364;berta&#x0364;ubt! es empfindet alles <hi rendition="#fr">in ein-</hi><lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G 3</fw><fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">an-</hi></fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[101/0107] durch Farben und Striche werden — aber toͤnende Sprache nie! Wir hoͤrende Geſchoͤpfe ſtehn in der Mitte: wir ſehen, wir fuͤhlen; aber die geſehene, gefuͤhlte Natur toͤnet! Sie wird Lehrmeiſterinn zur Sprache durch Toͤne! wir werden gleichſam Gehoͤr durch alle Sinne! Laſſet uns die Bequemlichkeit unſrer Stelle fuͤh- len — dadurch wird jeder Sinn ſprachfaͤhig. Freilich gibt Gehoͤr nur eigentlich Toͤne, und der Menſch kann nicht erfinden, ſondern nur fin- den, nur nachahmen; allein auf der einen Seite liegt das Gefuͤhl neben an: auf der andern iſt das Geſicht der nachbarliche Sinn: Die Empfin- dungen vereinigen ſich und kommen alſo alle der Gegend nahe, wo Merkmale zu Schaͤllen werden. So wird, was man ſieht, ſo wird, was man fuͤhlt, auch toͤnbar. Der Sinn zur Sprache iſt unſer Mittel- und Vereinigungsſinn geworden; wir ſind Sprachgeſchoͤpfe. 2) Das Gehoͤr iſt der Mittlere unter den Sin- nen an Deutlichkeit und Klarheit; und alſo wie- derum Sinn zur Sprache. Wie dunkel iſt das Ge- fuͤhl! es wird uͤbertaͤubt! es empfindet alles in ein- an- G 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/107
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/107>, abgerufen am 29.11.2024.