zu brauchen; desto dunkler! -- Laßt uns dies auf den Anfang der Sprache anwenden! Die Kindheit und Unerfahrenheit des menschlichen Ge- schlechts hat sie erleichtert!
Der Mensch trat in die Welt hin; von wel- chem Ocean wurde er auf Einmal bestürmt! mit welcher Mühe lernte er unterscheiden! Sinne er- kennen! erkannte Sinne allein gebrauchen! Das Sehen ist der kälteste Sinn, und wäre er immer so kalt, so entfernt, so deutlich gewesen, als ers uns durch eine Mühe und Uebung vieler Jahre ge- worden ist: so sehe ich freilich nicht, wie man, was man sieht, hörbar machen könne? Allein die Natur hat dafür gesorgt, und den Weg näher an- gezogen: Denn selbst dies Gesicht war, wie Kin- der und Blindgewesene zeugen, Anfangs nur Ge- fühl. Die meisten sichtbaren Dinge bewegen sich; viele tönen in der Bewegung: wo nicht, so liegen sie dem Auge in seinem ersten Zustande gleichsam näher, unmittelbar auf ihm und lassen sich also fühlen. Das Gefühl liegt dem Gehör so nahe: seine Bezeichnungen z. E. hart, rauh, weich, wol- ligt, sammet, haarigt, starr, glatt, schlicht, bor-
stig
G
zu brauchen; deſto dunkler! — Laßt uns dies auf den Anfang der Sprache anwenden! Die Kindheit und Unerfahrenheit des menſchlichen Ge- ſchlechts hat ſie erleichtert!
Der Menſch trat in die Welt hin; von wel- chem Ocean wurde er auf Einmal beſtuͤrmt! mit welcher Muͤhe lernte er unterſcheiden! Sinne er- kennen! erkannte Sinne allein gebrauchen! Das Sehen iſt der kaͤlteſte Sinn, und waͤre er immer ſo kalt, ſo entfernt, ſo deutlich geweſen, als ers uns durch eine Muͤhe und Uebung vieler Jahre ge- worden iſt: ſo ſehe ich freilich nicht, wie man, was man ſieht, hoͤrbar machen koͤnne? Allein die Natur hat dafuͤr geſorgt, und den Weg naͤher an- gezogen: Denn ſelbſt dies Geſicht war, wie Kin- der und Blindgeweſene zeugen, Anfangs nur Ge- fuͤhl. Die meiſten ſichtbaren Dinge bewegen ſich; viele toͤnen in der Bewegung: wo nicht, ſo liegen ſie dem Auge in ſeinem erſten Zuſtande gleichſam naͤher, unmittelbar auf ihm und laſſen ſich alſo fuͤhlen. Das Gefuͤhl liegt dem Gehoͤr ſo nahe: ſeine Bezeichnungen z. E. hart, rauh, weich, wol- ligt, ſammet, haarigt, ſtarr, glatt, ſchlicht, bor-
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zu brauchen; deſto dunkler! — Laßt uns dies
auf den Anfang der Sprache anwenden! Die
Kindheit und Unerfahrenheit des menſchlichen Ge-
ſchlechts hat ſie erleichtert!
Der Menſch trat in die Welt hin; von wel-
chem Ocean wurde er auf Einmal beſtuͤrmt! mit
welcher Muͤhe lernte er unterſcheiden! Sinne er-
kennen! erkannte Sinne allein gebrauchen! Das
Sehen iſt der kaͤlteſte Sinn, und waͤre er immer
ſo kalt, ſo entfernt, ſo deutlich geweſen, als ers
uns durch eine Muͤhe und Uebung vieler Jahre ge-
worden iſt: ſo ſehe ich freilich nicht, wie man, was
man ſieht, hoͤrbar machen koͤnne? Allein die
Natur hat dafuͤr geſorgt, und den Weg naͤher an-
gezogen: Denn ſelbſt dies Geſicht war, wie Kin-
der und Blindgeweſene zeugen, Anfangs nur Ge-
fuͤhl. Die meiſten ſichtbaren Dinge bewegen ſich;
viele toͤnen in der Bewegung: wo nicht, ſo liegen
ſie dem Auge in ſeinem erſten Zuſtande gleichſam
naͤher, unmittelbar auf ihm und laſſen ſich alſo
fuͤhlen. Das Gefuͤhl liegt dem Gehoͤr ſo nahe:
ſeine Bezeichnungen z. E. hart, rauh, weich, wol-
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/103>, abgerufen am 16.02.2025.
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