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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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Sechstes Capitel.
Vorblicke auf die Verbindung zwischen Seele und Leib.

44. Bisher sind Vorstellungen in der Seele als vor-
handen betrachtet worden, ohne Frage nach ihrem Ursprunge
und nach fremdartigen Einflüssen. Dies diente zur Erleich-
terung. Jetzt muß noch theils von der sinnlichen Wahrneh-
mung, theils von physiologischen Einwirkungen bey schon
vorhandenen Vorstellungen geredet, werden.

45. Schon der Erfahrung gemäß kann man anneh-
men, daß jede Wahrnehmung (perceptio von irgend merk-
licher Stärke eine kleine Weile zu ihrer Erzeugung erfordere;
aber Erfahrung und Metaphysik zugleich lehren, daß kei-
nesweges bey längerer Verweilung die Stärke der Wahr-
nehmung der Zeit proportional anwachse, sondern: je stär-
ker die Wahrnehmung schon ist, um desto weni-
ger nimmt sie zu
; und hieraus folgt, vermöge einer
leichten Rechnung, daß es eine endliche Gränze für
ihre Stärke
giebt, der sich die gewonnene Vorstellung
sehr bald annähert, und die selbst durch unendlich lange
Dauer der nämlichen Wahrnehmung nicht würde überstie-
gen werden können. Dies ist das Gesetz der abneh-
menden Empfänglichkeit
; und dabei ist die. Stärke
des sinnlichen Eindrucks in Hinsicht jener Gränze ganz gleich-
gültig. Die schwächste sinnliche Empfindung kann der Vor-
stellung eben so viel Stärke geben, wie die heftigste: nur
braucht sie dazu etwas längere Zeit.

46. Eigentlich besteht nun jede menschliche Vorstellung
aus unendlich vielen, unendlich kleinen, und dabey unter
einander ungleichen, elementarischen Auffassungen, die in
verschiedenen Zeittheilchen während der Dauer der Wahr-

Sechstes Capitel.
Vorblicke auf die Verbindung zwischen Seele und Leib.

44. Bisher sind Vorstellungen in der Seele als vor-
handen betrachtet worden, ohne Frage nach ihrem Ursprunge
und nach fremdartigen Einflüssen. Dies diente zur Erleich-
terung. Jetzt muß noch theils von der sinnlichen Wahrneh-
mung, theils von physiologischen Einwirkungen bey schon
vorhandenen Vorstellungen geredet, werden.

45. Schon der Erfahrung gemäß kann man anneh-
men, daß jede Wahrnehmung (perceptio von irgend merk-
licher Stärke eine kleine Weile zu ihrer Erzeugung erfordere;
aber Erfahrung und Metaphysik zugleich lehren, daß kei-
nesweges bey längerer Verweilung die Stärke der Wahr-
nehmung der Zeit proportional anwachse, sondern: je stär-
ker die Wahrnehmung schon ist, um desto weni-
ger nimmt sie zu
; und hieraus folgt, vermöge einer
leichten Rechnung, daß es eine endliche Gränze für
ihre Stärke
giebt, der sich die gewonnene Vorstellung
sehr bald annähert, und die selbst durch unendlich lange
Dauer der nämlichen Wahrnehmung nicht würde überstie-
gen werden können. Dies ist das Gesetz der abneh-
menden Empfänglichkeit
; und dabei ist die. Stärke
des sinnlichen Eindrucks in Hinsicht jener Gränze ganz gleich-
gültig. Die schwächste sinnliche Empfindung kann der Vor-
stellung eben so viel Stärke geben, wie die heftigste: nur
braucht sie dazu etwas längere Zeit.

46. Eigentlich besteht nun jede menschliche Vorstellung
aus unendlich vielen, unendlich kleinen, und dabey unter
einander ungleichen, elementarischen Auffassungen, die in
verschiedenen Zeittheilchen während der Dauer der Wahr-

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[33/0041] Sechstes Capitel. Vorblicke auf die Verbindung zwischen Seele und Leib. 44. Bisher sind Vorstellungen in der Seele als vor- handen betrachtet worden, ohne Frage nach ihrem Ursprunge und nach fremdartigen Einflüssen. Dies diente zur Erleich- terung. Jetzt muß noch theils von der sinnlichen Wahrneh- mung, theils von physiologischen Einwirkungen bey schon vorhandenen Vorstellungen geredet, werden. 45. Schon der Erfahrung gemäß kann man anneh- men, daß jede Wahrnehmung (perceptio von irgend merk- licher Stärke eine kleine Weile zu ihrer Erzeugung erfordere; aber Erfahrung und Metaphysik zugleich lehren, daß kei- nesweges bey längerer Verweilung die Stärke der Wahr- nehmung der Zeit proportional anwachse, sondern: je stär- ker die Wahrnehmung schon ist, um desto weni- ger nimmt sie zu; und hieraus folgt, vermöge einer leichten Rechnung, daß es eine endliche Gränze für ihre Stärke giebt, der sich die gewonnene Vorstellung sehr bald annähert, und die selbst durch unendlich lange Dauer der nämlichen Wahrnehmung nicht würde überstie- gen werden können. Dies ist das Gesetz der abneh- menden Empfänglichkeit; und dabei ist die. Stärke des sinnlichen Eindrucks in Hinsicht jener Gränze ganz gleich- gültig. Die schwächste sinnliche Empfindung kann der Vor- stellung eben so viel Stärke geben, wie die heftigste: nur braucht sie dazu etwas längere Zeit. 46. Eigentlich besteht nun jede menschliche Vorstellung aus unendlich vielen, unendlich kleinen, und dabey unter einander ungleichen, elementarischen Auffassungen, die in verschiedenen Zeittheilchen während der Dauer der Wahr-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/41>, abgerufen am 23.11.2024.