Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere
ein Zug des Leidens. Mögen sie immerhin durch Maxi-
men und Grundsätze noch über allen Plänen moralisch vest-
steh: leiden müssen sie, sobald der Gang der Gesellschaft
sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß
dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da-
von entfernt. Unter solchen Umständen schaut der Mensch
noch höher hinauf; er schaut in die dunkelste Ferne, und
versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein Ge-
dankenbild zeichnen lasse.

246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann
nicht auf das irdische Leben beschränkt seyn, da die Seele
ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den Veranstaltungen der
Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch
fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho-
logischen Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle
sich löst und ihre ungleichartigen Elemente sich zerstreuen.

Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse,
welche der Leib eben in dem Alter, das der Mensch erreicht
hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet also ein
Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich
die stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be-
schränkt waren. Der Tod ist demnach zuerst überhaupt Verjüngung, ohne doch die Kindheit zurückzuführen; denn
keine von den allmählig geknüpften Verbindungen der Vor-
stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich
die letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und
Sorgen ins Gleichgewicht mit der ganzen Vergangenheit.

247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum
Gleichgewichte die Bewegungen aller Vorstellungen bestimmt,
können doch sehr große Revolutionen unter denselben nöthig
seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt,
wie aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin-

Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere
ein Zug des Leidens. Mögen sie immerhin durch Maxi-
men und Grundsätze noch über allen Plänen moralisch vest-
steh: leiden müssen sie, sobald der Gang der Gesellschaft
sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß
dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da-
von entfernt. Unter solchen Umständen schaut der Mensch
noch höher hinauf; er schaut in die dunkelste Ferne, und
versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein Ge-
dankenbild zeichnen lasse.

246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann
nicht auf das irdische Leben beschränkt seyn, da die Seele
ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den Veranstaltungen der
Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch
fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho-
logischen Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle
sich löst und ihre ungleichartigen Elemente sich zerstreuen.

Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse,
welche der Leib eben in dem Alter, das der Mensch erreicht
hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet also ein
Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich
die stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be-
schränkt waren. Der Tod ist demnach zuerst überhaupt Verjüngung, ohne doch die Kindheit zurückzuführen; denn
keine von den allmählig geknüpften Verbindungen der Vor-
stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich
die letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und
Sorgen ins Gleichgewicht mit der ganzen Vergangenheit.

247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum
Gleichgewichte die Bewegungen aller Vorstellungen bestimmt,
können doch sehr große Revolutionen unter denselben nöthig
seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt,
wie aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0208" n="200"/>
            <p>Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere<lb/>
ein Zug des <hi rendition="#g">Leidens</hi>. Mögen sie immerhin durch Maxi-<lb/>
men und Grundsätze
               noch über allen Plänen moralisch vest-<lb/>
steh: leiden müssen sie, sobald der Gang
               der Gesellschaft<lb/>
sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß<lb/>
dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da-<lb/>
von entfernt. Unter
               solchen Umständen schaut der Mensch<lb/>
noch höher hinauf; er schaut in die
               dunkelste Ferne, und<lb/>
versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein
               Ge-<lb/>
dankenbild zeichnen lasse.</p><lb/>
            <p>246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann<lb/>
nicht auf das irdische Leben
               beschränkt seyn, da die Seele<lb/>
ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den
               Veranstaltungen der<lb/>
Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch<lb/>
fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho-<lb/>
logischen
               Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle<lb/>
sich löst und ihre
               ungleichartigen Elemente sich zerstreuen.</p><lb/>
            <p>Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse,<lb/>
welche der Leib eben in dem
               Alter, das der Mensch erreicht<lb/>
hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet
               also ein<lb/>
Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich<lb/>
die
               stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be-<lb/>
schränkt waren. Der Tod
               ist demnach zuerst überhaupt <hi rendition="#g">Verjüngung</hi>, ohne doch die
               Kindheit zurückzuführen; denn<lb/>
keine von den allmählig geknüpften Verbindungen
               der Vor-<lb/>
stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich<lb/>
die
               letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und<lb/>
Sorgen ins Gleichgewicht
               mit der ganzen Vergangenheit.</p><lb/>
            <p>247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum<lb/>
Gleichgewichte die Bewegungen
               aller Vorstellungen bestimmt,<lb/>
können doch sehr große Revolutionen unter
               denselben nöthig<lb/>
seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt,<lb/>
wie
               aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[200/0208] Hiemit kommt jedoch selbst in die stärksten Charaktere ein Zug des Leidens. Mögen sie immerhin durch Maxi- men und Grundsätze noch über allen Plänen moralisch vest- steh: leiden müssen sie, sobald der Gang der Gesellschaft sie von ihrer Bestimmung ablenkt; ja schon dadurch, daß dieselbe, anstatt sich der Jdee zu nähern, vielmehr sich da- von entfernt. Unter solchen Umständen schaut der Mensch noch höher hinauf; er schaut in die dunkelste Ferne, und versucht, ob dorthin noch, ohne Schwärmerey, sich ein Ge- dankenbild zeichnen lasse. 246. Die Bestimmung des einzelnen Menschen kann nicht auf das irdische Leben beschränkt seyn, da die Seele ewig ist. Gänzlich unbekannt mit den Veranstaltungen der Vorsehung für die entlegnere Zukunft, können wir dennoch fragen, was ohne alle weitere Einwirkung, bloß nach psycho- logischen Gesetzen, geschehen müsse, wann die leibliche Hülle sich löst und ihre ungleichartigen Elemente sich zerstreuen. Es verschwinden zuvörderst die besondern Einflüsse, welche der Leib eben in dem Alter, das der Mensch erreicht hatte, auszuüben geeignet war; es verschwindet also ein Hinderniß, wodurch die ältesten Vorstellungen, die an sich die stärksten sind, in der Lebhaftigkeit ihres Wirkens be- schränkt waren. Der Tod ist demnach zuerst überhaupt Verjüngung, ohne doch die Kindheit zurückzuführen; denn keine von den allmählig geknüpften Verbindungen der Vor- stellungen kann wieder aufgelöst werden. Jndessen setzt sich die letzte Gegenwart des Erdenlebens mit ihren Lasten und Sorgen ins Gleichgewicht mit der ganzen Vergangenheit. 247. Während nun im Allgemeinen das Streben zum Gleichgewichte die Bewegungen aller Vorstellungen bestimmt, können doch sehr große Revolutionen unter denselben nöthig seyn, damit sie dahin gelangen. Denn es ist gezeigt, wie aus den Bewegungen neue Bewegungsgesetze entsprin-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/208
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/208>, abgerufen am 22.11.2024.