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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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strebungen jeder Art zu Schandthaten verleiten. Ja, die
Vernunft (wenn anders ein solches Seelenvermögen wirklich
existiert) tritt mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht sel-
ten in eine friedliche Gemeinschaft. Dies sieht man am
klärsten bey dem Begriff des Rechts, den die Menschen
sehr gewöhnlich nur in einer beschränkten Sphäre gelten
lassen, indem sie jenseits derselben sich jede Befriedigung
ihrer Begierden erlauben. Der Räuberhauptmann verwal-
tet das Recht in seiner Bande. Der Grundsatz: haereti-
cis non est servanda fides, galt einst in der allein selig
machenden Kirche. Aehnlicher Beyspiele sindet sich im ge-
meinen Leben eine Menge, wo Menschen nur gegen Dieje-
nigen gerecht zu handeln nöthig finden, die sie für ihres
Gleichen
halten, alle andern aber als Fremde, als hostes
betrachten. Wird man nun im Ernste annehmen, die Ver-
nunft habe hier, sich selbst verläugnend, einen für sie schimpf-
lichen Vergleich mit der Sinnlichkeit abgeschlossen, der sie
das ganze Fremden-Gebiet Preis gebe?

Alle diese und noch viele andere Schwierigkeiten ver-
schwinden sogleich, sobald man einsieht, wil die Vorstellun-
gen dazu kommen, sich bald als Leidenschaft, bald als Ver-
nunft zu äußern; während sie an sich weder das eine, noch
das andere sind, auch nichts dem ähnliches (also auch keine
Jdee des Rechts, noch irgend eine andere Jdee oder Kate-
gorie), als präformirten Keim enthalten.




strebungen jeder Art zu Schandthaten verleiten. Ja, die
Vernunft (wenn anders ein solches Seelenvermögen wirklich
existiert) tritt mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht sel-
ten in eine friedliche Gemeinschaft. Dies sieht man am
klärsten bey dem Begriff des Rechts, den die Menschen
sehr gewöhnlich nur in einer beschränkten Sphäre gelten
lassen, indem sie jenseits derselben sich jede Befriedigung
ihrer Begierden erlauben. Der Räuberhauptmann verwal-
tet das Recht in seiner Bande. Der Grundsatz: haereti-
cis non est servanda fides, galt einst in der allein selig
machenden Kirche. Aehnlicher Beyspiele sindet sich im ge-
meinen Leben eine Menge, wo Menschen nur gegen Dieje-
nigen gerecht zu handeln nöthig finden, die sie für ihres
Gleichen
halten, alle andern aber als Fremde, als hostes
betrachten. Wird man nun im Ernste annehmen, die Ver-
nunft habe hier, sich selbst verläugnend, einen für sie schimpf-
lichen Vergleich mit der Sinnlichkeit abgeschlossen, der sie
das ganze Fremden-Gebiet Preis gebe?

Alle diese und noch viele andere Schwierigkeiten ver-
schwinden sogleich, sobald man einsieht, wil die Vorstellun-
gen dazu kommen, sich bald als Leidenschaft, bald als Ver-
nunft zu äußern; während sie an sich weder das eine, noch
das andere sind, auch nichts dem ähnliches (also auch keine
Jdee des Rechts, noch irgend eine andere Jdee oder Kate-
gorie), als präformirten Keim enthalten.




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[121/0129] strebungen jeder Art zu Schandthaten verleiten. Ja, die Vernunft (wenn anders ein solches Seelenvermögen wirklich existiert) tritt mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit nicht sel- ten in eine friedliche Gemeinschaft. Dies sieht man am klärsten bey dem Begriff des Rechts, den die Menschen sehr gewöhnlich nur in einer beschränkten Sphäre gelten lassen, indem sie jenseits derselben sich jede Befriedigung ihrer Begierden erlauben. Der Räuberhauptmann verwal- tet das Recht in seiner Bande. Der Grundsatz: haereti- cis non est servanda fides, galt einst in der allein selig machenden Kirche. Aehnlicher Beyspiele sindet sich im ge- meinen Leben eine Menge, wo Menschen nur gegen Dieje- nigen gerecht zu handeln nöthig finden, die sie für ihres Gleichen halten, alle andern aber als Fremde, als hostes betrachten. Wird man nun im Ernste annehmen, die Ver- nunft habe hier, sich selbst verläugnend, einen für sie schimpf- lichen Vergleich mit der Sinnlichkeit abgeschlossen, der sie das ganze Fremden-Gebiet Preis gebe? Alle diese und noch viele andere Schwierigkeiten ver- schwinden sogleich, sobald man einsieht, wil die Vorstellun- gen dazu kommen, sich bald als Leidenschaft, bald als Ver- nunft zu äußern; während sie an sich weder das eine, noch das andere sind, auch nichts dem ähnliches (also auch keine Jdee des Rechts, noch irgend eine andere Jdee oder Kate- gorie), als präformirten Keim enthalten.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/129>, abgerufen am 25.11.2024.