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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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zu fassen. Dem gemäß scheint es, man dürfe die vorge-
nannten Zustande nicht unter die Leidenschaften rechnen.
Allein die Begriffe der empirischen Psychologie sind zu schwan-
kend, als daß man auf solchen Bemerkungen recht vest be-
stehn könnte. Keine Leidenschaft ist eine reine Kraft und
Stärke; jede führt ihre Schwäche, ihr Elend, ihre jämmer-
lich hülflosen Zustände mit sich. Und auf der andern Seite
ist nicht zu leugnen, daß auch die Lustsucht, selbst die all-
gemeine, die mit den Gegenständen häufig wechselt, -- und
eben so die Scheu vor Unlust und vor dem Gefühle der
Leerheit, -- oftmals durch ihre anhaltende Stärke nur gar
zu gut die Stelle einer objectiven Leidenschaft vertreten kann.
Mannigfaltige Regungen des Begehrens nach dieser und je-
ner Lust, oder des Abscheus gegen dieses oder jenes Unbe-
hagen, sind einer Verbindung, und gleichsam einer Verdich-
tung, fähig; wobey sie sich in eine zusammengesetzte Kraft
verwandeln, die den Menschen in einer mittleren Richtung
forttreibt.

Fragt man nun auch hier nach analogen Arten des
Wahnsinns: so bemerkt man zuvörderst gleich, daß alle Lü-
ste sich frey und frech zu äußern pflegen, nachdem mit dem
Verstande die Schaam entwichen ist. Merkwürdig ist aus-
serdem der dumpfe Wahnsinn, der, falls er nicht etwa
Blödsinn wäre, sich wohl nur als eine Scheu vor unbehag-
lichen Gefühlen bey jeder Bewegung denken läßt; also als
eine höchst allgemeine Unlustscheu. Deutlicher entspricht der
Leerheitsscheu der rastlose Wahnsinn, desgleichen der Lebens-
Ueberdruß, der zum Selbstmorde führt.

Wie wir nun bisher zu den Leidenschaften die ähnli-
chen Arten des Wahnsinns suchten (indem wir der Ein-
theilung der Leidenschaften von Maaß nachgingen), so muß
es auch rückwärts gestattet seyn, zu den Arten des Wahn-
sinns die zugehörigen Arten der Leidenschaften zu erforschen.


zu fassen. Dem gemäß scheint es, man dürfe die vorge-
nannten Zustande nicht unter die Leidenschaften rechnen.
Allein die Begriffe der empirischen Psychologie sind zu schwan-
kend, als daß man auf solchen Bemerkungen recht vest be-
stehn könnte. Keine Leidenschaft ist eine reine Kraft und
Stärke; jede führt ihre Schwäche, ihr Elend, ihre jämmer-
lich hülflosen Zustände mit sich. Und auf der andern Seite
ist nicht zu leugnen, daß auch die Lustsucht, selbst die all-
gemeine, die mit den Gegenständen häufig wechselt, — und
eben so die Scheu vor Unlust und vor dem Gefühle der
Leerheit, — oftmals durch ihre anhaltende Stärke nur gar
zu gut die Stelle einer objectiven Leidenschaft vertreten kann.
Mannigfaltige Regungen des Begehrens nach dieser und je-
ner Lust, oder des Abscheus gegen dieses oder jenes Unbe-
hagen, sind einer Verbindung, und gleichsam einer Verdich-
tung, fähig; wobey sie sich in eine zusammengesetzte Kraft
verwandeln, die den Menschen in einer mittleren Richtung
forttreibt.

Fragt man nun auch hier nach analogen Arten des
Wahnsinns: so bemerkt man zuvörderst gleich, daß alle Lü-
ste sich frey und frech zu äußern pflegen, nachdem mit dem
Verstande die Schaam entwichen ist. Merkwürdig ist aus-
serdem der dumpfe Wahnsinn, der, falls er nicht etwa
Blödsinn wäre, sich wohl nur als eine Scheu vor unbehag-
lichen Gefühlen bey jeder Bewegung denken läßt; also als
eine höchst allgemeine Unlustscheu. Deutlicher entspricht der
Leerheitsscheu der rastlose Wahnsinn, desgleichen der Lebens-
Ueberdruß, der zum Selbstmorde führt.

Wie wir nun bisher zu den Leidenschaften die ähnli-
chen Arten des Wahnsinns suchten (indem wir der Ein-
theilung der Leidenschaften von Maaß nachgingen), so muß
es auch rückwärts gestattet seyn, zu den Arten des Wahn-
sinns die zugehörigen Arten der Leidenschaften zu erforschen.


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[119/0127] zu fassen. Dem gemäß scheint es, man dürfe die vorge- nannten Zustande nicht unter die Leidenschaften rechnen. Allein die Begriffe der empirischen Psychologie sind zu schwan- kend, als daß man auf solchen Bemerkungen recht vest be- stehn könnte. Keine Leidenschaft ist eine reine Kraft und Stärke; jede führt ihre Schwäche, ihr Elend, ihre jämmer- lich hülflosen Zustände mit sich. Und auf der andern Seite ist nicht zu leugnen, daß auch die Lustsucht, selbst die all- gemeine, die mit den Gegenständen häufig wechselt, — und eben so die Scheu vor Unlust und vor dem Gefühle der Leerheit, — oftmals durch ihre anhaltende Stärke nur gar zu gut die Stelle einer objectiven Leidenschaft vertreten kann. Mannigfaltige Regungen des Begehrens nach dieser und je- ner Lust, oder des Abscheus gegen dieses oder jenes Unbe- hagen, sind einer Verbindung, und gleichsam einer Verdich- tung, fähig; wobey sie sich in eine zusammengesetzte Kraft verwandeln, die den Menschen in einer mittleren Richtung forttreibt. Fragt man nun auch hier nach analogen Arten des Wahnsinns: so bemerkt man zuvörderst gleich, daß alle Lü- ste sich frey und frech zu äußern pflegen, nachdem mit dem Verstande die Schaam entwichen ist. Merkwürdig ist aus- serdem der dumpfe Wahnsinn, der, falls er nicht etwa Blödsinn wäre, sich wohl nur als eine Scheu vor unbehag- lichen Gefühlen bey jeder Bewegung denken läßt; also als eine höchst allgemeine Unlustscheu. Deutlicher entspricht der Leerheitsscheu der rastlose Wahnsinn, desgleichen der Lebens- Ueberdruß, der zum Selbstmorde führt. Wie wir nun bisher zu den Leidenschaften die ähnli- chen Arten des Wahnsinns suchten (indem wir der Ein- theilung der Leidenschaften von Maaß nachgingen), so muß es auch rückwärts gestattet seyn, zu den Arten des Wahn- sinns die zugehörigen Arten der Leidenschaften zu erforschen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/127>, abgerufen am 22.11.2024.