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Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

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ten hat. Mit der Krankheit der Einbildungskraft verbindet
sich dann noch eine Schwäche der Urteilskraft und des
Schlußvermögens, indem die offenbarsten Widerlegungen des
Wahns von dem Kranken nicht verstanden werden. Die
Krankheit wirkt weiter auf die Affecten, Begierden, Mei-
nungen, u. s. w.

Aber dieselbe kranke Einbildungskraft zeigt sich zuwei-
len sehr gesund, ja oftmals in einer genialisch erhöheten
Thätigkeit, in allem, was mit der sixen Jdee nicht zusam-
menhängt. Eben so beweisen die übrigen Seelenvermögen
oft recht klar, daß sie nicht schwach, sondern zur regelmä
ßigen
Thätigkeit wohl aufgelegt sind.

Die Verwunderung hierüber verschwindet, wenn man
die Hypothese von den Seelenvermögen bey Seite setzt.

Uebrigens werden folgende Arten des Wahnsinns be-
merkt: eingebildete Verwandlungen des Leibes oder der Per-
son; eingebildete Wirkungen des Teufels u. dgl.; eingebildete
Jnspiration, überhaupt religiöse Schwärmerey; Sucht, durch
Aufopferungen sich bekannt zu machen; fixierte Vorwürfe,
mit denen der Mensch sich quält; verliebter Wahnsinn; Le-
bensüberdruß; Todesfurcht; Furcht vor Armuth und Hun-
ger; dumpfer, und endlich rastloser Wahnsinn. Die Erklä-
rung aller dieser Erscheinungen ist nicht weit zu suchen.
Zuvörderst: die Geistes-Zerrüttung ist niemals rein geistig;
denn in dem psychischen Mechanismus findet sich kein Grund
zum starren Widerstande gegen klare Erfahrung. Ferner:
in aller Geistes-Zerrüttung ist ein Affect unverkennbar.
Dieser nun ist erstarrt im Nervensystem. Daher kann die
Vorstellungsmasse, worin der Affect seinen Sitz hat, nicht
zu solcher Veränderung übergehn, welche den Leib auf ent-
gegengesetzte Weise afficiren müßte. Aus zahllosen Geschich-
ten, welche als sehr merkwürdig verkündigt werden, lernt
der Psychologe wenig oder nichts Neues, sobald er einmal

ten hat. Mit der Krankheit der Einbildungskraft verbindet
sich dann noch eine Schwäche der Urteilskraft und des
Schlußvermögens, indem die offenbarsten Widerlegungen des
Wahns von dem Kranken nicht verstanden werden. Die
Krankheit wirkt weiter auf die Affecten, Begierden, Mei-
nungen, u. s. w.

Aber dieselbe kranke Einbildungskraft zeigt sich zuwei-
len sehr gesund, ja oftmals in einer genialisch erhöheten
Thätigkeit, in allem, was mit der sixen Jdee nicht zusam-
menhängt. Eben so beweisen die übrigen Seelenvermögen
oft recht klar, daß sie nicht schwach, sondern zur regelmä
ßigen
Thätigkeit wohl aufgelegt sind.

Die Verwunderung hierüber verschwindet, wenn man
die Hypothese von den Seelenvermögen bey Seite setzt.

Uebrigens werden folgende Arten des Wahnsinns be-
merkt: eingebildete Verwandlungen des Leibes oder der Per-
son; eingebildete Wirkungen des Teufels u. dgl.; eingebildete
Jnspiration, überhaupt religiöse Schwärmerey; Sucht, durch
Aufopferungen sich bekannt zu machen; fixierte Vorwürfe,
mit denen der Mensch sich quält; verliebter Wahnsinn; Le-
bensüberdruß; Todesfurcht; Furcht vor Armuth und Hun-
ger; dumpfer, und endlich rastloser Wahnsinn. Die Erklä-
rung aller dieser Erscheinungen ist nicht weit zu suchen.
Zuvörderst: die Geistes-Zerrüttung ist niemals rein geistig;
denn in dem psychischen Mechanismus findet sich kein Grund
zum starren Widerstande gegen klare Erfahrung. Ferner:
in aller Geistes-Zerrüttung ist ein Affect unverkennbar.
Dieser nun ist erstarrt im Nervensystem. Daher kann die
Vorstellungsmasse, worin der Affect seinen Sitz hat, nicht
zu solcher Veränderung übergehn, welche den Leib auf ent-
gegengesetzte Weise afficiren müßte. Aus zahllosen Geschich-
ten, welche als sehr merkwürdig verkündigt werden, lernt
der Psychologe wenig oder nichts Neues, sobald er einmal

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[112/0120] ten hat. Mit der Krankheit der Einbildungskraft verbindet sich dann noch eine Schwäche der Urteilskraft und des Schlußvermögens, indem die offenbarsten Widerlegungen des Wahns von dem Kranken nicht verstanden werden. Die Krankheit wirkt weiter auf die Affecten, Begierden, Mei- nungen, u. s. w. Aber dieselbe kranke Einbildungskraft zeigt sich zuwei- len sehr gesund, ja oftmals in einer genialisch erhöheten Thätigkeit, in allem, was mit der sixen Jdee nicht zusam- menhängt. Eben so beweisen die übrigen Seelenvermögen oft recht klar, daß sie nicht schwach, sondern zur regelmä ßigen Thätigkeit wohl aufgelegt sind. Die Verwunderung hierüber verschwindet, wenn man die Hypothese von den Seelenvermögen bey Seite setzt. Uebrigens werden folgende Arten des Wahnsinns be- merkt: eingebildete Verwandlungen des Leibes oder der Per- son; eingebildete Wirkungen des Teufels u. dgl.; eingebildete Jnspiration, überhaupt religiöse Schwärmerey; Sucht, durch Aufopferungen sich bekannt zu machen; fixierte Vorwürfe, mit denen der Mensch sich quält; verliebter Wahnsinn; Le- bensüberdruß; Todesfurcht; Furcht vor Armuth und Hun- ger; dumpfer, und endlich rastloser Wahnsinn. Die Erklä- rung aller dieser Erscheinungen ist nicht weit zu suchen. Zuvörderst: die Geistes-Zerrüttung ist niemals rein geistig; denn in dem psychischen Mechanismus findet sich kein Grund zum starren Widerstande gegen klare Erfahrung. Ferner: in aller Geistes-Zerrüttung ist ein Affect unverkennbar. Dieser nun ist erstarrt im Nervensystem. Daher kann die Vorstellungsmasse, worin der Affect seinen Sitz hat, nicht zu solcher Veränderung übergehn, welche den Leib auf ent- gegengesetzte Weise afficiren müßte. Aus zahllosen Geschich- ten, welche als sehr merkwürdig verkündigt werden, lernt der Psychologe wenig oder nichts Neues, sobald er einmal

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/120>, abgerufen am 24.11.2024.