Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich hervortre-
tenden Temperamente fehlerhaft.

133. Wie der Organismus die Affecten durch einen
Nachklang verstärkt, oder durch seine Unbeweglichkeit ihre
Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in allen Wechsel
der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad,
das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine
träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht.
Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der Menschen
Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus-
geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All-
gemeinen dem menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey
den Jndividuen enger oder weniger eng; und die Beweglich-
keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und
gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu
noch die besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder
jene Art des Denkens und Fühlens, so haben wir den Unter-
schied, dessen beyde äußerste Enden man Genie und Blöd-
sinn
nennt. Der letztere wird zu den anomalischen Zuständen
gerechnet, weil er sich oftmals mit ihnen vermischt und gleich
ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar macht.

Anmerkung. Was mit Physiognomie und Kranio-
stopie zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe-
stimmt, um bis jetzt in der Psychologie für etwas mehr als
für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame Thatsache
(gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr
seyn; um aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß
sie sich auf eine zuverlässige Weise mit dem, was sonst
schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht sie
einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends
durch Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver-
hältniß beyder Wissenschaften gerade umkehren; ein in neu-
ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit-

Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich hervortre-
tenden Temperamente fehlerhaft.

133. Wie der Organismus die Affecten durch einen
Nachklang verstärkt, oder durch seine Unbeweglichkeit ihre
Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in allen Wechsel
der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad,
das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine
träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht.
Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der Menschen
Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus-
geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All-
gemeinen dem menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey
den Jndividuen enger oder weniger eng; und die Beweglich-
keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und
gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu
noch die besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder
jene Art des Denkens und Fühlens, so haben wir den Unter-
schied, dessen beyde äußerste Enden man Genie und Blöd-
sinn
nennt. Der letztere wird zu den anomalischen Zuständen
gerechnet, weil er sich oftmals mit ihnen vermischt und gleich
ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar macht.

Anmerkung. Was mit Physiognomie und Kranio-
stopie zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe-
stimmt, um bis jetzt in der Psychologie für etwas mehr als
für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame Thatsache
(gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr
seyn; um aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß
sie sich auf eine zuverlässige Weise mit dem, was sonst
schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht sie
einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends
durch Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver-
hältniß beyder Wissenschaften gerade umkehren; ein in neu-
ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0113" n="105"/>
Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich
               hervortre-<lb/>
tenden Temperamente fehlerhaft.</p><lb/>
            <p>133. Wie der Organismus die Affecten durch einen<lb/>
Nachklang verstärkt, oder
               durch seine Unbeweglichkeit ihre<lb/>
Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in
               allen Wechsel<lb/>
der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad,<lb/>
das
               die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine<lb/>
träge Last, die sie verzögert
               oder gar unmöglich macht.<lb/>
Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der
               Menschen<lb/>
Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus-<lb/>
geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All-<lb/>
gemeinen dem
               menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey<lb/>
den Jndividuen enger oder weniger
               eng; und die Beweglich-<lb/>
keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und<lb/>
gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu<lb/>
noch die
               besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder<lb/>
jene Art des Denkens und
               Fühlens, so haben wir den Unter-<lb/>
schied, dessen beyde äußerste Enden man <hi rendition="#g">Genie</hi> und <hi rendition="#g">Blöd-<lb/>
sinn</hi> nennt. Der
               letztere wird zu den anomalischen Zuständen<lb/>
gerechnet, weil er sich oftmals mit
               ihnen vermischt und gleich<lb/>
ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar
               macht.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Anmerkung</hi>. Was mit Physiognomie und Kranio-<lb/>
stopie
               zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe-<lb/>
stimmt, um bis jetzt in der
               Psychologie für etwas mehr als<lb/>
für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame
               Thatsache<lb/>
(gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr<lb/>
seyn; um
               aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß<lb/>
sie sich auf eine zuverlässige
               Weise mit dem, was sonst<lb/>
schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht
               sie<lb/>
einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends<lb/>
durch
               Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver-<lb/>
hältniß beyder Wissenschaften
               gerade umkehren; ein in neu-<lb/>
ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[105/0113] Phlegmaticus. So angesehen sind alle merklich hervortre- tenden Temperamente fehlerhaft. 133. Wie der Organismus die Affecten durch einen Nachklang verstärkt, oder durch seine Unbeweglichkeit ihre Ausbrüche dämpft, eben so mischt er sich in allen Wechsel der Gefühle und der Gedanken, bald wie das Schwungrad, das die empfangene Bewegung verlängert, bald wie eine träge Last, die sie verzögert oder gar unmöglich macht. Wenigstens ist es eine bekannte Thatsache, daß der Menschen Wachen nicht immer, und nicht bloß, so viel ist, als Aus- geschlafen haben. Jene enge Pupille, die wir oben im All- gemeinen dem menschlichen Geiste beylegten (127), ist bey den Jndividuen enger oder weniger eng; und die Beweglich- keit der Vorstellungen, die im Bewußtseyn kommen und gehen, ist bey ihnen kleiner oder größer. Nehmen wir dazu noch die besondre Aufgelegtheit mancher Personen für diese oder jene Art des Denkens und Fühlens, so haben wir den Unter- schied, dessen beyde äußerste Enden man Genie und Blöd- sinn nennt. Der letztere wird zu den anomalischen Zuständen gerechnet, weil er sich oftmals mit ihnen vermischt und gleich ihnen, den Menschen in der Gesellschaft unbrauchbar macht. Anmerkung. Was mit Physiognomie und Kranio- stopie zusammenhängt, das ist zu unsicher und zu unbe- stimmt, um bis jetzt in der Psychologie für etwas mehr als für eine Curiosität zu gelten. Manche seltsame Thatsache (gleichviel aus welchem Gebiete des Wissens) kann wahr seyn; um aber wissenschaftlich wichtig zu werden, muß sie sich auf eine zuverlässige Weise mit dem, was sonst schon bekannt und geprüft ist, verknüpfen lassen; steht sie einsam, so bleibt sie unfruchtbar. Die Psychologie vollends durch Physiologie beherrschen wollen, heißt das Ver- hältniß beyder Wissenschaften gerade umkehren; ein in neu- ern und ältern Zeiten häusig begangener Fehler; Jm drit-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-07-05T12:13:38Z)
Thomas Gloning: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-07-05T12:13:38Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Hannah Sophia Glaum: Umwandlung in DTABf-konformes Markup. (2013-07-05T12:13:38Z)
Stefanie Seim: Nachkorrekturen. (2013-07-05T12:13:38Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Bogensignaturen: nicht übernommen
  • fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet
  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/113
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Lehrbuch zur Psychologie. 2. Aufl. Königsberg, 1834, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie_1834/113>, abgerufen am 24.11.2024.