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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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sichten einzulassen. Ein solcher wolle ja nicht vorschnell
seine bisherige Vorstellungsart aufgeben, und eine neue
dafür eintauschen. Er wolle nur erst von der neuen An-
sicht Kunde nehmen, und sie sich als eine andre mög-
liche Denkart gefallen lassen. Dadurch wird er den gro-
ssen Gewinn erreichen, allmählig freyer zu werden von
dem Zwange der Vorurtheile, die ihn bisher beherrsch-
ten. In dem Maasse, wie durch sorgfältiges Studium der
ihm entgegenstehenden neuen Lehre diese Freyheit wächst,
wird er fähig werden die Prüfung sowohl des Alten als
des Neuen zu beginnen. Und in dem Maasse der Thä-
tigkeit seines eignen Denkens wird er nun mit sich über-
legen, ob etwan beyderley Theorien sich nur gegenseitig
die Blössen aufdecken? so dass eine dritte die wahre
seyn müsse? Oder ob wirklich überzeugende Gründe auf
einer von beyden Seiten vorhanden seyen? -- Wenn
nun auch das Endurtheil hierüber noch schwankt und
schwebt: so ist dennoch eine solche Zeit, während
welcher neue Gedanken auch nur als mögliche Vorstel-
lungsarten die Gemüther beschäfftigen, eine Zeit vermehr-
ter Thätigkeit und schärferer Prüfung für alle jene Wis-
senschaften, die man jemals mit dem in Untersuchung
stehenden Gegenstande in Verbindung zu denken gewohnt
war. Auch für diese erheben sich neue Versuche, und
es entdecken sich bisher übersehene Hülfsmittel.

Angenommen endlich, was zu betheuern so unschick-
lich als unnütz wäre, dass die in diesem Buche vorge-
tragenen Grundsätze Wahrheit enthalten, so steht zu
hoffen, erstlich, dass diese Wahrheit ihre Unbiegsamkeit
einen Jeden werde fühlen lassen, der sie wider ihre Natur
würde behandeln wollen; zweytens, dass mancher Irrthum
daran scheitern werde, theils von den vorhandenen, theils
von den im Entstehen begriffenen. Die Kenntniss des
psychologischen Mechanismus lässt uns den Standpunct
begreifen, von wo aus wir die Dinge in der Welt be-
trachten; sie leistet gerade das, was jene an der unrech-
ten Stelle suchten, die aus gewissen ursprünglichen Schran-

sichten einzulassen. Ein solcher wolle ja nicht vorschnell
seine bisherige Vorstellungsart aufgeben, und eine neue
dafür eintauschen. Er wolle nur erst von der neuen An-
sicht Kunde nehmen, und sie sich als eine andre mög-
liche Denkart gefallen lassen. Dadurch wird er den gro-
ſsen Gewinn erreichen, allmählig freyer zu werden von
dem Zwange der Vorurtheile, die ihn bisher beherrsch-
ten. In dem Maaſse, wie durch sorgfältiges Studium der
ihm entgegenstehenden neuen Lehre diese Freyheit wächst,
wird er fähig werden die Prüfung sowohl des Alten als
des Neuen zu beginnen. Und in dem Maaſse der Thä-
tigkeit seines eignen Denkens wird er nun mit sich über-
legen, ob etwan beyderley Theorien sich nur gegenseitig
die Blöſsen aufdecken? so daſs eine dritte die wahre
seyn müsse? Oder ob wirklich überzeugende Gründe auf
einer von beyden Seiten vorhanden seyen? — Wenn
nun auch das Endurtheil hierüber noch schwankt und
schwebt: so ist dennoch eine solche Zeit, während
welcher neue Gedanken auch nur als mögliche Vorstel-
lungsarten die Gemüther beschäfftigen, eine Zeit vermehr-
ter Thätigkeit und schärferer Prüfung für alle jene Wis-
senschaften, die man jemals mit dem in Untersuchung
stehenden Gegenstande in Verbindung zu denken gewohnt
war. Auch für diese erheben sich neue Versuche, und
es entdecken sich bisher übersehene Hülfsmittel.

Angenommen endlich, was zu betheuern so unschick-
lich als unnütz wäre, daſs die in diesem Buche vorge-
tragenen Grundsätze Wahrheit enthalten, so steht zu
hoffen, erstlich, daſs diese Wahrheit ihre Unbiegsamkeit
einen Jeden werde fühlen lassen, der sie wider ihre Natur
würde behandeln wollen; zweytens, daſs mancher Irrthum
daran scheitern werde, theils von den vorhandenen, theils
von den im Entstehen begriffenen. Die Kenntniſs des
psychologischen Mechanismus läſst uns den Standpunct
begreifen, von wo aus wir die Dinge in der Welt be-
trachten; sie leistet gerade das, was jene an der unrech-
ten Stelle suchten, die aus gewissen ursprünglichen Schran-

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[538/0573] sichten einzulassen. Ein solcher wolle ja nicht vorschnell seine bisherige Vorstellungsart aufgeben, und eine neue dafür eintauschen. Er wolle nur erst von der neuen An- sicht Kunde nehmen, und sie sich als eine andre mög- liche Denkart gefallen lassen. Dadurch wird er den gro- ſsen Gewinn erreichen, allmählig freyer zu werden von dem Zwange der Vorurtheile, die ihn bisher beherrsch- ten. In dem Maaſse, wie durch sorgfältiges Studium der ihm entgegenstehenden neuen Lehre diese Freyheit wächst, wird er fähig werden die Prüfung sowohl des Alten als des Neuen zu beginnen. Und in dem Maaſse der Thä- tigkeit seines eignen Denkens wird er nun mit sich über- legen, ob etwan beyderley Theorien sich nur gegenseitig die Blöſsen aufdecken? so daſs eine dritte die wahre seyn müsse? Oder ob wirklich überzeugende Gründe auf einer von beyden Seiten vorhanden seyen? — Wenn nun auch das Endurtheil hierüber noch schwankt und schwebt: so ist dennoch eine solche Zeit, während welcher neue Gedanken auch nur als mögliche Vorstel- lungsarten die Gemüther beschäfftigen, eine Zeit vermehr- ter Thätigkeit und schärferer Prüfung für alle jene Wis- senschaften, die man jemals mit dem in Untersuchung stehenden Gegenstande in Verbindung zu denken gewohnt war. Auch für diese erheben sich neue Versuche, und es entdecken sich bisher übersehene Hülfsmittel. Angenommen endlich, was zu betheuern so unschick- lich als unnütz wäre, daſs die in diesem Buche vorge- tragenen Grundsätze Wahrheit enthalten, so steht zu hoffen, erstlich, daſs diese Wahrheit ihre Unbiegsamkeit einen Jeden werde fühlen lassen, der sie wider ihre Natur würde behandeln wollen; zweytens, daſs mancher Irrthum daran scheitern werde, theils von den vorhandenen, theils von den im Entstehen begriffenen. Die Kenntniſs des psychologischen Mechanismus läſst uns den Standpunct begreifen, von wo aus wir die Dinge in der Welt be- trachten; sie leistet gerade das, was jene an der unrech- ten Stelle suchten, die aus gewissen ursprünglichen Schran-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/573>, abgerufen am 24.11.2024.