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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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heisst es von ihnen, omne simile claudicat; nimmt man
sie gar für ernsthafte Angaben dessen, was der Erzieher
zu besorgen habe, so muss der Leser aus den Untersu-
chungen dieses Buches wissen, wie gänzlich untauglich
sie sind. Nur Einen Punct hebe ich hervor: das Wich-
tigste der Erziehung ist die sittliche Bildung; wer aber
kann diese übernehmen, wenn er sich einbildet, in der
Seele stecke schon ein organischer Bau, der, so wie er
einmal beschaffen sey, sich entwickeln müsse, weil etwas
anderes aus dieser Seele machen zu wollen, eben so thö-
richt sey, als aus einer Tulpenzwiebel eine Hyacinthe
hervorziehen zu wollen? Wie nun, wenn unser Zögling
die Organisation eines Spitzbuben in sich trägt? -- Hier
hilft man sich mit der Freyheit; wieder ohne zu überle-
gen, dass die Freyheit gerade von nichts anderem als
von Causalverhältnissen frey seyn muss, wenn sie überall
existirt; und dass alsdann die nicht geringere Thorheit
an den Tag kommt, eine Causalität durch Erziehung da
ausüben zu wollen, wo gar keine Causalität möglich ist. --
Was ist die Folge von dem allen? Dass philosophirende
Köpfe, wenn die falsche Psychologie bey ihnen einhei-
misch ist, gerade die Hauptsache, die sittliche Bildung,
mit mistrauischen Augen ansehn; dass sie den Muth nicht
haben, diesen Gedanken ernstlich zu fassen. Diese Haupt-
sache aber hinweggenommen, lässt nur einige unbestimmte
Gedanken übrig, von Cultur des Gedächtnisses, der Phan-
tasie, des Verstandes u. s. w., die zu gar nichts dienen,
als dem rohen Empirismus und der Routine, welche am
Ende die Stelle der wissenschaftlichen Pädagogik vertre-
ten, einige Lappen umzuhängen, die deren Blösse minder
sichtbar machen.

Die Psychologie trennte sich von Politik und Ge-
schichte, mit welchen Wissenschaften sie hätte innig ver-
bunden seyn sollen. Man schrieb Lehren vom Verstande
und der Vernunft, als von Vermögen, die in jeder
Menschenseele
, bey wilden Stämmen wie bey den cul-
tivirtesten Nationen, auf gleiche Weise sich ursprünglich

II. L l

heiſst es von ihnen, omne simile claudicat; nimmt man
sie gar für ernsthafte Angaben dessen, was der Erzieher
zu besorgen habe, so muſs der Leser aus den Untersu-
chungen dieses Buches wissen, wie gänzlich untauglich
sie sind. Nur Einen Punct hebe ich hervor: das Wich-
tigste der Erziehung ist die sittliche Bildung; wer aber
kann diese übernehmen, wenn er sich einbildet, in der
Seele stecke schon ein organischer Bau, der, so wie er
einmal beschaffen sey, sich entwickeln müsse, weil etwas
anderes aus dieser Seele machen zu wollen, eben so thö-
richt sey, als aus einer Tulpenzwiebel eine Hyacinthe
hervorziehen zu wollen? Wie nun, wenn unser Zögling
die Organisation eines Spitzbuben in sich trägt? — Hier
hilft man sich mit der Freyheit; wieder ohne zu überle-
gen, daſs die Freyheit gerade von nichts anderem als
von Causalverhältnissen frey seyn muſs, wenn sie überall
existirt; und daſs alsdann die nicht geringere Thorheit
an den Tag kommt, eine Causalität durch Erziehung da
ausüben zu wollen, wo gar keine Causalität möglich ist. —
Was ist die Folge von dem allen? Daſs philosophirende
Köpfe, wenn die falsche Psychologie bey ihnen einhei-
misch ist, gerade die Hauptsache, die sittliche Bildung,
mit mistrauischen Augen ansehn; daſs sie den Muth nicht
haben, diesen Gedanken ernstlich zu fassen. Diese Haupt-
sache aber hinweggenommen, läſst nur einige unbestimmte
Gedanken übrig, von Cultur des Gedächtnisses, der Phan-
tasie, des Verstandes u. s. w., die zu gar nichts dienen,
als dem rohen Empirismus und der Routine, welche am
Ende die Stelle der wissenschaftlichen Pädagogik vertre-
ten, einige Lappen umzuhängen, die deren Blöſse minder
sichtbar machen.

Die Psychologie trennte sich von Politik und Ge-
schichte, mit welchen Wissenschaften sie hätte innig ver-
bunden seyn sollen. Man schrieb Lehren vom Verstande
und der Vernunft, als von Vermögen, die in jeder
Menschenseele
, bey wilden Stämmen wie bey den cul-
tivirtesten Nationen, auf gleiche Weise sich ursprünglich

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[529/0564] heiſst es von ihnen, omne simile claudicat; nimmt man sie gar für ernsthafte Angaben dessen, was der Erzieher zu besorgen habe, so muſs der Leser aus den Untersu- chungen dieses Buches wissen, wie gänzlich untauglich sie sind. Nur Einen Punct hebe ich hervor: das Wich- tigste der Erziehung ist die sittliche Bildung; wer aber kann diese übernehmen, wenn er sich einbildet, in der Seele stecke schon ein organischer Bau, der, so wie er einmal beschaffen sey, sich entwickeln müsse, weil etwas anderes aus dieser Seele machen zu wollen, eben so thö- richt sey, als aus einer Tulpenzwiebel eine Hyacinthe hervorziehen zu wollen? Wie nun, wenn unser Zögling die Organisation eines Spitzbuben in sich trägt? — Hier hilft man sich mit der Freyheit; wieder ohne zu überle- gen, daſs die Freyheit gerade von nichts anderem als von Causalverhältnissen frey seyn muſs, wenn sie überall existirt; und daſs alsdann die nicht geringere Thorheit an den Tag kommt, eine Causalität durch Erziehung da ausüben zu wollen, wo gar keine Causalität möglich ist. — Was ist die Folge von dem allen? Daſs philosophirende Köpfe, wenn die falsche Psychologie bey ihnen einhei- misch ist, gerade die Hauptsache, die sittliche Bildung, mit mistrauischen Augen ansehn; daſs sie den Muth nicht haben, diesen Gedanken ernstlich zu fassen. Diese Haupt- sache aber hinweggenommen, läſst nur einige unbestimmte Gedanken übrig, von Cultur des Gedächtnisses, der Phan- tasie, des Verstandes u. s. w., die zu gar nichts dienen, als dem rohen Empirismus und der Routine, welche am Ende die Stelle der wissenschaftlichen Pädagogik vertre- ten, einige Lappen umzuhängen, die deren Blöſse minder sichtbar machen. Die Psychologie trennte sich von Politik und Ge- schichte, mit welchen Wissenschaften sie hätte innig ver- bunden seyn sollen. Man schrieb Lehren vom Verstande und der Vernunft, als von Vermögen, die in jeder Menschenseele, bey wilden Stämmen wie bey den cul- tivirtesten Nationen, auf gleiche Weise sich ursprünglich II. L l

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 529. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/564>, abgerufen am 24.11.2024.