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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Sie entstanden aber aus der Verschmelzung nach der
Hemmung. Es vereinigten sich die, welche nicht bis zur
Schwelle herabgedrückt waren. Hingegen die völlig Un-
terdrückten konnten an der Vereinigung keinen Theil
nehmen. Und die Vereinigung unter jenen war weder
eine gleiche, noch eine vollständige; sondern ihr Werth
für jeden Einzelnen bestimmte sich nach den Pro-
ducten aller Reste, paarweise genommen. (Vergleiche
§. 63--70.)

Zu diesem einfachen Grundtexte der Statik des Staats
mögen nun noch einige Bemerkungen kommen.

1) Das Wort Staat bezeichnet einen vesten Stand
der gegenseitigen Lage der Menschen. Die Vestigkeit
ist das Gegentheil der Schwankung; der Staat ist Gleich-
gewicht, im Gegensatze der Unruhe. Dass aber das
Gleichgewicht niemals vollkommen, jedoch sehr bald bey-
nahe
eintreten könne: wissen wir aus der Mechanik des
Geistes. (§. 74.)

2) Die vorausgesetzte Ungleichheit der Kräfte, ein
Werk der Natur, des Glücks, der Umstände -- kann
auf die verschiedenste Weise angenommen werden. In
den allermeisten Fällen wird sie so gross seyn, dass,
wenn man successiv die stärkste Kraft, und die nächste,
und so fort, hinwegdenkt, doch immer noch die Uebrig-
bleibenden unter einander in ein solches Gleichgewicht
treten würden, wodurch eine Menge der Schwächeren
unter die Schwelle des gesellschaftlichen Einflusses fallen
müsste. Man erinnere sich hiebey an solche Perioden
der Geschichte, wo das Oberhaupt fiel, und mit ihm die
edelsten Geschlechter untergingen.

3) Diejenigen, welche unter die Schwelle fallen, müs-
sen ihrer Bedürfnisse wegen, sich aufs Bitten legen, sie
werden sich zum Dienen gebrauchen lassen. Sie schlie-
ssen sich also bestimmten Personen an, die auf ihre
Dienste zählen. So lange nun nicht die Gemeinde (die
nach der Hemmung Verschmolzenen sich ihrer annimmt,
gehören sie jenen, als ihren Herrn; sie werden von den-

B 2

Sie entstanden aber aus der Verschmelzung nach der
Hemmung. Es vereinigten sich die, welche nicht bis zur
Schwelle herabgedrückt waren. Hingegen die völlig Un-
terdrückten konnten an der Vereinigung keinen Theil
nehmen. Und die Vereinigung unter jenen war weder
eine gleiche, noch eine vollständige; sondern ihr Werth
für jeden Einzelnen bestimmte sich nach den Pro-
ducten aller Reste, paarweise genommen. (Vergleiche
§. 63—70.)

Zu diesem einfachen Grundtexte der Statik des Staats
mögen nun noch einige Bemerkungen kommen.

1) Das Wort Staat bezeichnet einen vesten Stand
der gegenseitigen Lage der Menschen. Die Vestigkeit
ist das Gegentheil der Schwankung; der Staat ist Gleich-
gewicht, im Gegensatze der Unruhe. Daſs aber das
Gleichgewicht niemals vollkommen, jedoch sehr bald bey-
nahe
eintreten könne: wissen wir aus der Mechanik des
Geistes. (§. 74.)

2) Die vorausgesetzte Ungleichheit der Kräfte, ein
Werk der Natur, des Glücks, der Umstände — kann
auf die verschiedenste Weise angenommen werden. In
den allermeisten Fällen wird sie so groſs seyn, daſs,
wenn man successiv die stärkste Kraft, und die nächste,
und so fort, hinwegdenkt, doch immer noch die Uebrig-
bleibenden unter einander in ein solches Gleichgewicht
treten würden, wodurch eine Menge der Schwächeren
unter die Schwelle des gesellschaftlichen Einflusses fallen
müſste. Man erinnere sich hiebey an solche Perioden
der Geschichte, wo das Oberhaupt fiel, und mit ihm die
edelsten Geschlechter untergingen.

3) Diejenigen, welche unter die Schwelle fallen, müs-
sen ihrer Bedürfnisse wegen, sich aufs Bitten legen, sie
werden sich zum Dienen gebrauchen lassen. Sie schlie-
ſsen sich also bestimmten Personen an, die auf ihre
Dienste zählen. So lange nun nicht die Gemeinde (die
nach der Hemmung Verschmolzenen sich ihrer annimmt,
gehören sie jenen, als ihren Herrn; sie werden von den-

B 2
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[19/0054] Sie entstanden aber aus der Verschmelzung nach der Hemmung. Es vereinigten sich die, welche nicht bis zur Schwelle herabgedrückt waren. Hingegen die völlig Un- terdrückten konnten an der Vereinigung keinen Theil nehmen. Und die Vereinigung unter jenen war weder eine gleiche, noch eine vollständige; sondern ihr Werth für jeden Einzelnen bestimmte sich nach den Pro- ducten aller Reste, paarweise genommen. (Vergleiche §. 63—70.) Zu diesem einfachen Grundtexte der Statik des Staats mögen nun noch einige Bemerkungen kommen. 1) Das Wort Staat bezeichnet einen vesten Stand der gegenseitigen Lage der Menschen. Die Vestigkeit ist das Gegentheil der Schwankung; der Staat ist Gleich- gewicht, im Gegensatze der Unruhe. Daſs aber das Gleichgewicht niemals vollkommen, jedoch sehr bald bey- nahe eintreten könne: wissen wir aus der Mechanik des Geistes. (§. 74.) 2) Die vorausgesetzte Ungleichheit der Kräfte, ein Werk der Natur, des Glücks, der Umstände — kann auf die verschiedenste Weise angenommen werden. In den allermeisten Fällen wird sie so groſs seyn, daſs, wenn man successiv die stärkste Kraft, und die nächste, und so fort, hinwegdenkt, doch immer noch die Uebrig- bleibenden unter einander in ein solches Gleichgewicht treten würden, wodurch eine Menge der Schwächeren unter die Schwelle des gesellschaftlichen Einflusses fallen müſste. Man erinnere sich hiebey an solche Perioden der Geschichte, wo das Oberhaupt fiel, und mit ihm die edelsten Geschlechter untergingen. 3) Diejenigen, welche unter die Schwelle fallen, müs- sen ihrer Bedürfnisse wegen, sich aufs Bitten legen, sie werden sich zum Dienen gebrauchen lassen. Sie schlie- ſsen sich also bestimmten Personen an, die auf ihre Dienste zählen. So lange nun nicht die Gemeinde (die nach der Hemmung Verschmolzenen sich ihrer annimmt, gehören sie jenen, als ihren Herrn; sie werden von den- B 2

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/54>, abgerufen am 04.05.2024.