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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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(welches, für sich allein, weder Wahrheit noch Irrthum,
und überhaupt gar keine Erkenntniss enthält); die Em-
pfindung nimmt Form an; diese Form giebt uns Wahr-
heit gemischt mit dem Irrthum; ihre weitern Verwandlun-
gen scheiden allmählig von der Wahrheit den Irrthum,
so dass wir mit absichtlicher Anstrengung, die zum Theil
in Gewöhnung übergeht, wohl im Stande sind, beydes
aus einander zu halten. Lässt aber die Anstrengung gar
zu sehr nach, so mischt sich der Irrthum mit der Wahr-
heit, und wird um desto buntscheckiger, je weniger sie
zu ihm passt; wie man es an den phantastischen Syste-
men sieht, die auf das kritische gefolgt sind.

Wie nun der Irrthum seine Naturgeschichte hat, so
hat auch der falsche Geschmack die seinige. Wie aus
Sand, Kies und Erz die Edelsteine, so scheiden sich aus
den wandelbaren Gemüthszuständen die unveränderlichen,
von keiner Individualität, sondern nur von der Qualität
des Vorgestellten abhängigen ästhetischen Urtheile all-
mählig heraus; und werden für die Gefühle dasselbe, was
für das theoretische Denken die Producte des sogenannten
Verstandes sind, den wir oben für das Vermögen erklär-
ten, uns im Denken nach der Qualität des Gedachten zu
richten. Aber die Ausscheidung geschieht nicht rein und
bleibt nicht rein. Das Schöne und das Beliebte, das Gute
und das Angenehme werden immer von neuem verwechselt.
Die Werke des Geschmacks, wie man sie nennt, sind
vielmehr Werke der Phantasie, das heisst, sie entstehen,
wie die Träume, aus Reproductionen unzähliger früher
gebildeter Reihen, welche gerade deswegen, weil ihr treues
Ablaufen grossentheils gehemmt ist, nun Verbindungen
unter einander eingehn können, die sie bey vollständiger
Evolution würden ausgestossen haben. Das grosse Wun-
der, was man darin findet, ist ein Geschöpf der psycho-
logischen Unwissenheit. Nothwendig müssen durch die
neue Verwebung neue psychologische Kräfte, und neue
Gemüthszustände entstehn. Wenn nun das Individuum,
worin sich dieselben bildeten, weder durch äussere Um-

(welches, für sich allein, weder Wahrheit noch Irrthum,
und überhaupt gar keine Erkenntniſs enthält); die Em-
pfindung nimmt Form an; diese Form giebt uns Wahr-
heit gemischt mit dem Irrthum; ihre weitern Verwandlun-
gen scheiden allmählig von der Wahrheit den Irrthum,
so daſs wir mit absichtlicher Anstrengung, die zum Theil
in Gewöhnung übergeht, wohl im Stande sind, beydes
aus einander zu halten. Läſst aber die Anstrengung gar
zu sehr nach, so mischt sich der Irrthum mit der Wahr-
heit, und wird um desto buntscheckiger, je weniger sie
zu ihm paſst; wie man es an den phantastischen Syste-
men sieht, die auf das kritische gefolgt sind.

Wie nun der Irrthum seine Naturgeschichte hat, so
hat auch der falsche Geschmack die seinige. Wie aus
Sand, Kies und Erz die Edelsteine, so scheiden sich aus
den wandelbaren Gemüthszuständen die unveränderlichen,
von keiner Individualität, sondern nur von der Qualität
des Vorgestellten abhängigen ästhetischen Urtheile all-
mählig heraus; und werden für die Gefühle dasselbe, was
für das theoretische Denken die Producte des sogenannten
Verstandes sind, den wir oben für das Vermögen erklär-
ten, uns im Denken nach der Qualität des Gedachten zu
richten. Aber die Ausscheidung geschieht nicht rein und
bleibt nicht rein. Das Schöne und das Beliebte, das Gute
und das Angenehme werden immer von neuem verwechselt.
Die Werke des Geschmacks, wie man sie nennt, sind
vielmehr Werke der Phantasie, das heiſst, sie entstehen,
wie die Träume, aus Reproductionen unzähliger früher
gebildeter Reihen, welche gerade deswegen, weil ihr treues
Ablaufen groſsentheils gehemmt ist, nun Verbindungen
unter einander eingehn können, die sie bey vollständiger
Evolution würden ausgestoſsen haben. Das groſse Wun-
der, was man darin findet, ist ein Geschöpf der psycho-
logischen Unwissenheit. Nothwendig müssen durch die
neue Verwebung neue psychologische Kräfte, und neue
Gemüthszustände entstehn. Wenn nun das Individuum,
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[434/0469] (welches, für sich allein, weder Wahrheit noch Irrthum, und überhaupt gar keine Erkenntniſs enthält); die Em- pfindung nimmt Form an; diese Form giebt uns Wahr- heit gemischt mit dem Irrthum; ihre weitern Verwandlun- gen scheiden allmählig von der Wahrheit den Irrthum, so daſs wir mit absichtlicher Anstrengung, die zum Theil in Gewöhnung übergeht, wohl im Stande sind, beydes aus einander zu halten. Läſst aber die Anstrengung gar zu sehr nach, so mischt sich der Irrthum mit der Wahr- heit, und wird um desto buntscheckiger, je weniger sie zu ihm paſst; wie man es an den phantastischen Syste- men sieht, die auf das kritische gefolgt sind. Wie nun der Irrthum seine Naturgeschichte hat, so hat auch der falsche Geschmack die seinige. Wie aus Sand, Kies und Erz die Edelsteine, so scheiden sich aus den wandelbaren Gemüthszuständen die unveränderlichen, von keiner Individualität, sondern nur von der Qualität des Vorgestellten abhängigen ästhetischen Urtheile all- mählig heraus; und werden für die Gefühle dasselbe, was für das theoretische Denken die Producte des sogenannten Verstandes sind, den wir oben für das Vermögen erklär- ten, uns im Denken nach der Qualität des Gedachten zu richten. Aber die Ausscheidung geschieht nicht rein und bleibt nicht rein. Das Schöne und das Beliebte, das Gute und das Angenehme werden immer von neuem verwechselt. Die Werke des Geschmacks, wie man sie nennt, sind vielmehr Werke der Phantasie, das heiſst, sie entstehen, wie die Träume, aus Reproductionen unzähliger früher gebildeter Reihen, welche gerade deswegen, weil ihr treues Ablaufen groſsentheils gehemmt ist, nun Verbindungen unter einander eingehn können, die sie bey vollständiger Evolution würden ausgestoſsen haben. Das groſse Wun- der, was man darin findet, ist ein Geschöpf der psycho- logischen Unwissenheit. Nothwendig müssen durch die neue Verwebung neue psychologische Kräfte, und neue Gemüthszustände entstehn. Wenn nun das Individuum, worin sich dieselben bildeten, weder durch äuſsere Um-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 434. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/469>, abgerufen am 22.11.2024.