rung ganz allgemein, wie leicht eins mit dem andern ver- wechselt werde. Die Unterscheidung des Schönen vom Angenehmen, des Hässlichen vom Unangenehmen, ist eine Bemühung des weit ausgebildeten Menschen, deren Bedürfniss er erst dann empfindet, wenn er sich die Maximen auseinandersetzen will, die aus jenen beyden Classen des Vorziehns und Verwerfens entspringen.
Diejenigen Maximen nämlich, welche das Aestheti- sche betreffen, besitzen einen grossen und für ihre Brauch- barkeit entscheidenden Vorzug vor denen, die aus den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen hervor- gehn. Jene lassen sich deutlich denken, diese nicht. Denn jene beziehen sich auf Verhältnisse, deren Glieder eine gesonderte Auffassung gestatten, diese nicht also. Ja bey gehöriger Sorgfalt kann man die ästhetischen Ver- hältnisse absichtlich und mit Bewusstseyn construiren; man kann ein ganzes Feld, worin ästhetische Gegenstände vorgekommen sind, durchsuchen, um alles, was auf die- sem Felde möglich ist, vollständig zusammenzustellen. Dieses ist eben die Pflicht der allgemeinen Aesthetik, die zwar ihre Schuld noch beynahe nirgends anders, als in Ansehung der harmonischen Grundverhältnisse der Töne, mit Präcision gelös't hat. Je weiter aber die Aesthetik vorrückt, desto mehr entzieht sie ihren Gegenstand dem rohen Empirismus, in welchem die Unterscheidung des Angenehmen und Unangenehmen stets befangen blei- ben muss.
Um weiter fortzuschreiten, muss ich aus meiner all- gemeinen praktischen Philosophie als bekannt voraussetzen, dass die ethischen Principien in ihrer ursprünglichen Ge- stalt zur Classe der ästhetischen Urtheile gehören. Sie ergeben demnach im Laufe des Lebens, und in der Tra- dition der Zeiten, die ihnen entsprechenden Maximen ganz auf ähnliche Weise, wie alle ästhetischen Maximen, ja wie alle Maximen des Handelns überhaupt entsprin- gen: nämlich durch Verschmelzung gleichartiger Vorstel- lungen; denen jedoch anfangs viel Ungleichartiges bey-
rung ganz allgemein, wie leicht eins mit dem andern ver- wechselt werde. Die Unterscheidung des Schönen vom Angenehmen, des Häſslichen vom Unangenehmen, ist eine Bemühung des weit ausgebildeten Menschen, deren Bedürfniſs er erst dann empfindet, wenn er sich die Maximen auseinandersetzen will, die aus jenen beyden Classen des Vorziehns und Verwerfens entspringen.
Diejenigen Maximen nämlich, welche das Aestheti- sche betreffen, besitzen einen groſsen und für ihre Brauch- barkeit entscheidenden Vorzug vor denen, die aus den Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen hervor- gehn. Jene lassen sich deutlich denken, diese nicht. Denn jene beziehen sich auf Verhältnisse, deren Glieder eine gesonderte Auffassung gestatten, diese nicht also. Ja bey gehöriger Sorgfalt kann man die ästhetischen Ver- hältnisse absichtlich und mit Bewuſstseyn construiren; man kann ein ganzes Feld, worin ästhetische Gegenstände vorgekommen sind, durchsuchen, um alles, was auf die- sem Felde möglich ist, vollständig zusammenzustellen. Dieses ist eben die Pflicht der allgemeinen Aesthetik, die zwar ihre Schuld noch beynahe nirgends anders, als in Ansehung der harmonischen Grundverhältnisse der Töne, mit Präcision gelös’t hat. Je weiter aber die Aesthetik vorrückt, desto mehr entzieht sie ihren Gegenstand dem rohen Empirismus, in welchem die Unterscheidung des Angenehmen und Unangenehmen stets befangen blei- ben muſs.
Um weiter fortzuschreiten, muſs ich aus meiner all- gemeinen praktischen Philosophie als bekannt voraussetzen, daſs die ethischen Principien in ihrer ursprünglichen Ge- stalt zur Classe der ästhetischen Urtheile gehören. Sie ergeben demnach im Laufe des Lebens, und in der Tra- dition der Zeiten, die ihnen entsprechenden Maximen ganz auf ähnliche Weise, wie alle ästhetischen Maximen, ja wie alle Maximen des Handelns überhaupt entsprin- gen: nämlich durch Verschmelzung gleichartiger Vorstel- lungen; denen jedoch anfangs viel Ungleichartiges bey-
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rung ganz allgemein, wie leicht eins mit dem andern ver-
wechselt werde. Die Unterscheidung des Schönen vom
Angenehmen, des Häſslichen vom Unangenehmen, ist
eine Bemühung des weit ausgebildeten Menschen, deren
Bedürfniſs er erst dann empfindet, wenn er sich die
Maximen auseinandersetzen will, die aus jenen
beyden Classen des Vorziehns und Verwerfens entspringen.
Diejenigen Maximen nämlich, welche das Aestheti-
sche betreffen, besitzen einen groſsen und für ihre Brauch-
barkeit entscheidenden Vorzug vor denen, die aus den
Gefühlen des Angenehmen und Unangenehmen hervor-
gehn. Jene lassen sich deutlich denken, diese nicht.
Denn jene beziehen sich auf Verhältnisse, deren Glieder
eine gesonderte Auffassung gestatten, diese nicht also.
Ja bey gehöriger Sorgfalt kann man die ästhetischen Ver-
hältnisse absichtlich und mit Bewuſstseyn construiren;
man kann ein ganzes Feld, worin ästhetische Gegenstände
vorgekommen sind, durchsuchen, um alles, was auf die-
sem Felde möglich ist, vollständig zusammenzustellen.
Dieses ist eben die Pflicht der allgemeinen Aesthetik, die
zwar ihre Schuld noch beynahe nirgends anders, als in
Ansehung der harmonischen Grundverhältnisse der Töne,
mit Präcision gelös’t hat. Je weiter aber die Aesthetik
vorrückt, desto mehr entzieht sie ihren Gegenstand dem
rohen Empirismus, in welchem die Unterscheidung des
Angenehmen und Unangenehmen stets befangen blei-
ben muſs.
Um weiter fortzuschreiten, muſs ich aus meiner all-
gemeinen praktischen Philosophie als bekannt voraussetzen,
daſs die ethischen Principien in ihrer ursprünglichen Ge-
stalt zur Classe der ästhetischen Urtheile gehören. Sie
ergeben demnach im Laufe des Lebens, und in der Tra-
dition der Zeiten, die ihnen entsprechenden Maximen
ganz auf ähnliche Weise, wie alle ästhetischen Maximen,
ja wie alle Maximen des Handelns überhaupt entsprin-
gen: nämlich durch Verschmelzung gleichartiger Vorstel-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/449>, abgerufen am 22.11.2024.
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