gleich der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94.); und der Apperception (§. 125. u. f.). Bey unserer höchst geringen Empfänglichkeit im männlichen Alter, erzeugen sich nur äusserst kleine Quanta der Empfindung, aber diese wirken als Reize auf die längst vorhandenen gleich- artigen Vorstellungen, sammt Allem, womit die letzteren in Verbindung stehen.
Daraus nun erklärt sich derjenige Zustand des rei- fen Anschauens, wie wir es vollziehen, indem wir mit Besonnenheit etwas besehen und betrachten. Wir könn- ten mit völlig gleicher Leichtigkeit ganz andere Gegen- stände auffassen; ja wir thun es wirklich, wenn eine Reihe von Merkwürdigkeiten uns vorgezeigt wird. Ist diese Reihe nicht gar zu lang und zu bunt: so belästigt sie uns nicht im mindesten; von der hemmenden Gewalt, welche den ersten Grund des psychologischen Mechanis- mus ausmacht, ist dabey wenig zu spüren; am wenigsten in Beziehung auf Uns; denn wir kommen dabey (beson- dere Fälle abgerechnet) gar nicht aus der Fassung, füh- len uns selbst nicht im mindesten verändert. Wohl aber behandeln wir den Gegenstand, indem wir ihn untersu- chen; wenigstens geht unsre Anschauung sogleich in ein mannigfaltiges Urtheilen über. Denn er zeigt uns seine Umrisse wie auf einem Hintergrunde zahlloser Möglich- keiten, die wir selbst aus unserm, schon gesammelten, schon zu Begriffen verarbeiteten, Vorrathe hinzubringen. Die sinnliche Empfindung, unbedeutend als Masse, dient uns nur als ein formendes Princip für den Stoff, den wir besitzen; denn sie hebt aus diesem Stoffe einiges heraus, und schneidet weit mehr anderes hinweg; daher wir über den Gegenstand mehr negative Urtheile, als po- sitive, fällen würden, wenn alles, was sich in uns regt, Sprache finden könnte; und wenn nicht die meisten un- serer hervortretenden Gedanken gleich im Entstehen wie- der erdrückt würden.
Geschieht es ganz so, wie eben beschrieben worden: dann fühlen wir uns frey im Anschauen. Denn der
Lauf
gleich der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94.); und der Apperception (§. 125. u. f.). Bey unserer höchst geringen Empfänglichkeit im männlichen Alter, erzeugen sich nur äuſserst kleine Quanta der Empfindung, aber diese wirken als Reize auf die längst vorhandenen gleich- artigen Vorstellungen, sammt Allem, womit die letzteren in Verbindung stehen.
Daraus nun erklärt sich derjenige Zustand des rei- fen Anschauens, wie wir es vollziehen, indem wir mit Besonnenheit etwas besehen und betrachten. Wir könn- ten mit völlig gleicher Leichtigkeit ganz andere Gegen- stände auffassen; ja wir thun es wirklich, wenn eine Reihe von Merkwürdigkeiten uns vorgezeigt wird. Ist diese Reihe nicht gar zu lang und zu bunt: so belästigt sie uns nicht im mindesten; von der hemmenden Gewalt, welche den ersten Grund des psychologischen Mechanis- mus ausmacht, ist dabey wenig zu spüren; am wenigsten in Beziehung auf Uns; denn wir kommen dabey (beson- dere Fälle abgerechnet) gar nicht aus der Fassung, füh- len uns selbst nicht im mindesten verändert. Wohl aber behandeln wir den Gegenstand, indem wir ihn untersu- chen; wenigstens geht unsre Anschauung sogleich in ein mannigfaltiges Urtheilen über. Denn er zeigt uns seine Umrisse wie auf einem Hintergrunde zahlloser Möglich- keiten, die wir selbst aus unserm, schon gesammelten, schon zu Begriffen verarbeiteten, Vorrathe hinzubringen. Die sinnliche Empfindung, unbedeutend als Masse, dient uns nur als ein formendes Princip für den Stoff, den wir besitzen; denn sie hebt aus diesem Stoffe einiges heraus, und schneidet weit mehr anderes hinweg; daher wir über den Gegenstand mehr negative Urtheile, als po- sitive, fällen würden, wenn alles, was sich in uns regt, Sprache finden könnte; und wenn nicht die meisten un- serer hervortretenden Gedanken gleich im Entstehen wie- der erdrückt würden.
Geschieht es ganz so, wie eben beschrieben worden: dann fühlen wir uns frey im Anschauen. Denn der
Lauf
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gleich der abnehmenden Empfänglichkeit (§. 94.); und
der Apperception (§. 125. u. f.). Bey unserer höchst
geringen Empfänglichkeit im männlichen Alter, erzeugen
sich nur äuſserst kleine Quanta der Empfindung, aber
diese wirken als Reize auf die längst vorhandenen gleich-
artigen Vorstellungen, sammt Allem, womit die letzteren
in Verbindung stehen.
Daraus nun erklärt sich derjenige Zustand des rei-
fen Anschauens, wie wir es vollziehen, indem wir mit
Besonnenheit etwas besehen und betrachten. Wir könn-
ten mit völlig gleicher Leichtigkeit ganz andere Gegen-
stände auffassen; ja wir thun es wirklich, wenn eine
Reihe von Merkwürdigkeiten uns vorgezeigt wird. Ist
diese Reihe nicht gar zu lang und zu bunt: so belästigt
sie uns nicht im mindesten; von der hemmenden Gewalt,
welche den ersten Grund des psychologischen Mechanis-
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in Beziehung auf Uns; denn wir kommen dabey (beson-
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schon zu Begriffen verarbeiteten, Vorrathe hinzubringen.
Die sinnliche Empfindung, unbedeutend als Masse, dient
uns nur als ein formendes Princip für den Stoff, den
wir besitzen; denn sie hebt aus diesem Stoffe einiges
heraus, und schneidet weit mehr anderes hinweg; daher
wir über den Gegenstand mehr negative Urtheile, als po-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 368. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/403>, abgerufen am 22.11.2024.
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