hat. Ich meine den Ausdruck Anschauung. Dabey denkt man zunächst an die Wahrnehmung, die gewiss bey keiner Anschauung fehlen kann. Aber zugleich soll die Anschauung uns etwas Objectives gegenüber stellen. Die blosse Wahrnehmung, selbst wenn dabey der soge- nannte innere Sinn thätig ist, (vergl. §. 125--128.) be- zeichnet noch kein Object als ein solches. Dazu muss erst das Selbstbewusstseyn kommen, es muss das auffas- sende Subject dem Objecte entgegengesetzt werden. Schon dies ist nicht ganz einfach. Das Subject ist ur- sprünglich nicht das Entgegengesetzte, sondern das Vor- ausgesetzte der Objecte; (§. 131.). Aber vermöge jener veränderlichen Complexion, die das objective Ich ausmacht, (§. 135.), tritt das in ihr enthaltene Subject selbst in die Reihe der Objecte; wird ein Punct, und zwar der erste Punct, in dem Systeme derselben; daher sieht der Mensch das Object ausser sich, und setzt es sich entgegen, wenn zugleich das Angeschaute selbst ei- nen zweyten, vesten Punct im Systeme der Objecte darbietet. Dies letztere wird theils durch Bestimmungen im Raume, theils durch Veststellung in mancherley Ge- bieten der Qualität (§. 139.), also überhaupt durch Un- terscheidung dieses bestimmten Gegenstandes von an- dern wirklichen und möglichen Gegenständen, erreicht. Kurz: Anschauen heisst, ein Object, gegenüber dem Subjecte als ein solches und kein anderes auffassen.
Dass in der Anschauung, als Grundbestandtheil der- selben, Empfindung liege: versteht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Sub- jects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heisst, die Anschauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist. Also umgekehrt: die Anschauung ist um desto vollkommener, je weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat.
Um dies völlig zu verstehen, erinnere man sich zu-
hat. Ich meine den Ausdruck Anschauung. Dabey denkt man zunächst an die Wahrnehmung, die gewiſs bey keiner Anschauung fehlen kann. Aber zugleich soll die Anschauung uns etwas Objectives gegenüber stellen. Die bloſse Wahrnehmung, selbst wenn dabey der soge- nannte innere Sinn thätig ist, (vergl. §. 125—128.) be- zeichnet noch kein Object als ein solches. Dazu muſs erst das Selbstbewuſstseyn kommen, es muſs das auffas- sende Subject dem Objecte entgegengesetzt werden. Schon dies ist nicht ganz einfach. Das Subject ist ur- sprünglich nicht das Entgegengesetzte, sondern das Vor- ausgesetzte der Objecte; (§. 131.). Aber vermöge jener veränderlichen Complexion, die das objective Ich ausmacht, (§. 135.), tritt das in ihr enthaltene Subject selbst in die Reihe der Objecte; wird ein Punct, und zwar der erste Punct, in dem Systeme derselben; daher sieht der Mensch das Object auſser sich, und setzt es sich entgegen, wenn zugleich das Angeschaute selbst ei- nen zweyten, vesten Punct im Systeme der Objecte darbietet. Dies letztere wird theils durch Bestimmungen im Raume, theils durch Veststellung in mancherley Ge- bieten der Qualität (§. 139.), also überhaupt durch Un- terscheidung dieses bestimmten Gegenstandes von an- dern wirklichen und möglichen Gegenständen, erreicht. Kurz: Anschauen heiſst, ein Object, gegenüber dem Subjecte als ein solches und kein anderes auffassen.
Daſs in der Anschauung, als Grundbestandtheil der- selben, Empfindung liege: versteht sich zwar von selbst. Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Sub- jects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden Objecte. Das heiſst, die Anschauung wird verlieren an dem, was an ihr charakteristisch ist. Also umgekehrt: die Anschauung ist um desto vollkommener, je weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat.
Um dies völlig zu verstehen, erinnere man sich zu-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0402"n="367"/>
hat. Ich meine den Ausdruck <hirendition="#g">Anschauung</hi>. Dabey<lb/>
denkt man zunächst an die Wahrnehmung, die gewiſs<lb/>
bey keiner Anschauung fehlen kann. Aber zugleich soll<lb/>
die Anschauung uns etwas Objectives gegenüber stellen.<lb/>
Die bloſse Wahrnehmung, selbst wenn dabey der soge-<lb/>
nannte innere Sinn thätig ist, (vergl. §. 125—128.) be-<lb/>
zeichnet noch kein Object als ein solches. Dazu muſs<lb/>
erst das Selbstbewuſstseyn kommen, es muſs das auffas-<lb/>
sende Subject dem Objecte <hirendition="#g">entgegengesetzt</hi> werden.<lb/>
Schon dies ist nicht ganz einfach. Das Subject ist ur-<lb/>
sprünglich nicht das Entgegengesetzte, sondern das <hirendition="#g">Vor-<lb/>
ausgesetzte</hi> der Objecte; (§. 131.). Aber vermöge<lb/>
jener veränderlichen Complexion, die das objective Ich<lb/>
ausmacht, (§. 135.), tritt das in ihr enthaltene Subject<lb/>
selbst in die Reihe der Objecte; wird ein Punct, und<lb/>
zwar der <hirendition="#g">erste</hi> Punct, in dem Systeme derselben; daher<lb/>
sieht der Mensch das Object <hirendition="#g">auſser sich</hi>, und setzt es<lb/>
sich entgegen, wenn zugleich das Angeschaute selbst ei-<lb/>
nen <hirendition="#g">zweyten</hi>, vesten Punct im Systeme der Objecte<lb/>
darbietet. Dies letztere wird theils durch Bestimmungen<lb/>
im Raume, theils durch Veststellung in mancherley Ge-<lb/>
bieten der Qualität (§. 139.), also überhaupt durch <hirendition="#g">Un-<lb/>
terscheidung</hi> dieses bestimmten Gegenstandes von an-<lb/>
dern wirklichen und möglichen Gegenständen, erreicht.<lb/>
Kurz: <hirendition="#g">Anschauen heiſst, ein Object, gegenüber<lb/>
dem Subjecte als ein solches und kein anderes<lb/>
auffassen</hi>.</p><lb/><p>Daſs in der Anschauung, als Grundbestandtheil der-<lb/>
selben, Empfindung liege: versteht sich zwar von selbst.<lb/>
Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie<lb/>
hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Sub-<lb/>
jects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden<lb/>
Objecte. Das heiſst, die Anschauung wird verlieren an<lb/>
dem, was an ihr charakteristisch ist. Also umgekehrt:<lb/><hirendition="#g">die Anschauung ist um desto vollkommener, je<lb/>
weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat</hi>.</p><lb/><p>Um dies völlig zu verstehen, erinnere man sich zu-<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[367/0402]
hat. Ich meine den Ausdruck Anschauung. Dabey
denkt man zunächst an die Wahrnehmung, die gewiſs
bey keiner Anschauung fehlen kann. Aber zugleich soll
die Anschauung uns etwas Objectives gegenüber stellen.
Die bloſse Wahrnehmung, selbst wenn dabey der soge-
nannte innere Sinn thätig ist, (vergl. §. 125—128.) be-
zeichnet noch kein Object als ein solches. Dazu muſs
erst das Selbstbewuſstseyn kommen, es muſs das auffas-
sende Subject dem Objecte entgegengesetzt werden.
Schon dies ist nicht ganz einfach. Das Subject ist ur-
sprünglich nicht das Entgegengesetzte, sondern das Vor-
ausgesetzte der Objecte; (§. 131.). Aber vermöge
jener veränderlichen Complexion, die das objective Ich
ausmacht, (§. 135.), tritt das in ihr enthaltene Subject
selbst in die Reihe der Objecte; wird ein Punct, und
zwar der erste Punct, in dem Systeme derselben; daher
sieht der Mensch das Object auſser sich, und setzt es
sich entgegen, wenn zugleich das Angeschaute selbst ei-
nen zweyten, vesten Punct im Systeme der Objecte
darbietet. Dies letztere wird theils durch Bestimmungen
im Raume, theils durch Veststellung in mancherley Ge-
bieten der Qualität (§. 139.), also überhaupt durch Un-
terscheidung dieses bestimmten Gegenstandes von an-
dern wirklichen und möglichen Gegenständen, erreicht.
Kurz: Anschauen heiſst, ein Object, gegenüber
dem Subjecte als ein solches und kein anderes
auffassen.
Daſs in der Anschauung, als Grundbestandtheil der-
selben, Empfindung liege: versteht sich zwar von selbst.
Allein je stärker diese Empfindung, desto mehr wird sie
hemmend einwirken sowohl auf die Vorstellung des Sub-
jects, als auf die der andern, davon zu unterscheidenden
Objecte. Das heiſst, die Anschauung wird verlieren an
dem, was an ihr charakteristisch ist. Also umgekehrt:
die Anschauung ist um desto vollkommener, je
weniger Gewicht in ihr die Empfindung hat.
Um dies völlig zu verstehen, erinnere man sich zu-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 367. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/402>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.