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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Im Grunde steht der Gegenstand in einem vielfachen,
dauernden Causalverhältniss; aber was man Ursache nennt,
ist mehr eine Abweichung, eine Anomalie in jenem Ver-
hältniss, als das Wesentliche oder als das Ganze.

Man entdeckt nun sehr leicht, dass die gewöhnlichen
Vorstellungsarten von der Causalität nach zwey verschie-
denen Richtungen auseinandergehn. Der Physiker, indem
er sich den ganzen Erdball vergegenwärtigt, denkt sich
alle Gravitation aller einzelnen Theile, alle chemischen
Anziehungen aller Elemente, als etwas Bestehendes, das
in verhältnissmässig sehr wenigen Puncten in Verände-
rung begriffen ist. Die meisten dieser Causal-Verhält-
nisse sind dauernd, und man begeht keinen merklichen
Fehler, wenn man in Hinsicht ihrer die Zeit ganz ausser
Acht lässt.

Von ganz andrer Art sind diejenigen Causalitäten,
mit denen sich der Historiker beschäfftigt. Für ihn muss
alles Jetzige sich darstellen als unterworfen dem Frühe-
ren; und er legt den Wirkungen eine Geschwindigkeit
bey, mit der sie fortschreiten, desgleichen eine Intensi-
tät, womit sie die Zeit erfüllen.

Diese ganz verschiedenen Causalbegriffe, (die man
ohne Metaphysik weder genau sondern, noch verbinden,
noch erklären kann,) wie verhalten sie sich zu Kants
Lehre? Hat er wirklich die beyden Gattungen trennen
wollen, indem er in der ersten, sehr ausführlichen, sich
oft wiederhohlenden Erörterung (seiner zweyten soge-
nannten Analogie) alle Veränderungen dem Causalge-
setze, und dieses wiederum gänzlich der Zeitfolge, da-
hin giebt; dann aber, (bey der dritten Analogie) auf ein
paar Blättern, gleichsam anhangsweise, als wäre von ei-
ner Kleinigkeit die Rede, alle Substanzen in Wech-
selwirkung treten lässt -- um das Zugleichseyn, das
als leere Zeit nicht wahrgenommen werden kann, ob-
jectiv darzustellen? --

Sollte Jemand wirklich glauben, er habe sich den
Unterschied hiebey deutlich gedacht, so würde man

Im Grunde steht der Gegenstand in einem vielfachen,
dauernden Causalverhältniſs; aber was man Ursache nennt,
ist mehr eine Abweichung, eine Anomalie in jenem Ver-
hältniſs, als das Wesentliche oder als das Ganze.

Man entdeckt nun sehr leicht, daſs die gewöhnlichen
Vorstellungsarten von der Causalität nach zwey verschie-
denen Richtungen auseinandergehn. Der Physiker, indem
er sich den ganzen Erdball vergegenwärtigt, denkt sich
alle Gravitation aller einzelnen Theile, alle chemischen
Anziehungen aller Elemente, als etwas Bestehendes, das
in verhältniſsmäſsig sehr wenigen Puncten in Verände-
rung begriffen ist. Die meisten dieser Causal-Verhält-
nisse sind dauernd, und man begeht keinen merklichen
Fehler, wenn man in Hinsicht ihrer die Zeit ganz auſser
Acht läſst.

Von ganz andrer Art sind diejenigen Causalitäten,
mit denen sich der Historiker beschäfftigt. Für ihn muſs
alles Jetzige sich darstellen als unterworfen dem Frühe-
ren; und er legt den Wirkungen eine Geschwindigkeit
bey, mit der sie fortschreiten, desgleichen eine Intensi-
tät, womit sie die Zeit erfüllen.

Diese ganz verschiedenen Causalbegriffe, (die man
ohne Metaphysik weder genau sondern, noch verbinden,
noch erklären kann,) wie verhalten sie sich zu Kants
Lehre? Hat er wirklich die beyden Gattungen trennen
wollen, indem er in der ersten, sehr ausführlichen, sich
oft wiederhohlenden Erörterung (seiner zweyten soge-
nannten Analogie) alle Veränderungen dem Causalge-
setze, und dieses wiederum gänzlich der Zeitfolge, da-
hin giebt; dann aber, (bey der dritten Analogie) auf ein
paar Blättern, gleichsam anhangsweise, als wäre von ei-
ner Kleinigkeit die Rede, alle Substanzen in Wech-
selwirkung treten läſst — um das Zugleichseyn, das
als leere Zeit nicht wahrgenommen werden kann, ob-
jectiv darzustellen? —

Sollte Jemand wirklich glauben, er habe sich den
Unterschied hiebey deutlich gedacht, so würde man

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[333/0368] Im Grunde steht der Gegenstand in einem vielfachen, dauernden Causalverhältniſs; aber was man Ursache nennt, ist mehr eine Abweichung, eine Anomalie in jenem Ver- hältniſs, als das Wesentliche oder als das Ganze. Man entdeckt nun sehr leicht, daſs die gewöhnlichen Vorstellungsarten von der Causalität nach zwey verschie- denen Richtungen auseinandergehn. Der Physiker, indem er sich den ganzen Erdball vergegenwärtigt, denkt sich alle Gravitation aller einzelnen Theile, alle chemischen Anziehungen aller Elemente, als etwas Bestehendes, das in verhältniſsmäſsig sehr wenigen Puncten in Verände- rung begriffen ist. Die meisten dieser Causal-Verhält- nisse sind dauernd, und man begeht keinen merklichen Fehler, wenn man in Hinsicht ihrer die Zeit ganz auſser Acht läſst. Von ganz andrer Art sind diejenigen Causalitäten, mit denen sich der Historiker beschäfftigt. Für ihn muſs alles Jetzige sich darstellen als unterworfen dem Frühe- ren; und er legt den Wirkungen eine Geschwindigkeit bey, mit der sie fortschreiten, desgleichen eine Intensi- tät, womit sie die Zeit erfüllen. Diese ganz verschiedenen Causalbegriffe, (die man ohne Metaphysik weder genau sondern, noch verbinden, noch erklären kann,) wie verhalten sie sich zu Kants Lehre? Hat er wirklich die beyden Gattungen trennen wollen, indem er in der ersten, sehr ausführlichen, sich oft wiederhohlenden Erörterung (seiner zweyten soge- nannten Analogie) alle Veränderungen dem Causalge- setze, und dieses wiederum gänzlich der Zeitfolge, da- hin giebt; dann aber, (bey der dritten Analogie) auf ein paar Blättern, gleichsam anhangsweise, als wäre von ei- ner Kleinigkeit die Rede, alle Substanzen in Wech- selwirkung treten läſst — um das Zugleichseyn, das als leere Zeit nicht wahrgenommen werden kann, ob- jectiv darzustellen? — Sollte Jemand wirklich glauben, er habe sich den Unterschied hiebey deutlich gedacht, so würde man

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/368>, abgerufen am 27.11.2024.