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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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merken, dass sehr allgemein eine Vorstellung
für eine einzige gehalten wird, wenn sie schon
nichts anders ist als ein Aggregat von zum
Theil verschmolzenen Elementar-Vorstellun-
gen
. Wir sehen uns einen Gegenstand eine Weile an;
dann kehren wir uns weg und sagen: nun habe ich doch
eine Vorstellung von dem Dinge. Niemanden fällt es
ein, dass sein Vorstellen des Gegenstandes eine Total-
kraft ist, die während des ganzen Zeitverlauss sich aus
allen den unendlich vielen momentanen Auffassungen ge-
bildet hat; nach §. 94. u. s. w. Oder wir gehn mit ei-
nem Werkzeuge, mit einer Person um; wir sehen sie
vielemal, wir nehmen Gehör und Gefühl zu Hülfe, um
unsre Kenntniss davon zu vollenden; viele Totalkräfte,
deren jede der eben erwähnten gleicht, sind hier ver-
schmolzen, und wirken zusammen in unsrer erlangten
Kenntniss: allein unbekannt mit dem Mechanismus der
Vorstellungen halten wir uns an das Vorgestellte;
dieses wird für Eins genommen, weil die ganze Comple-
xion aller jener Totalkräfte zusammenwirkt; daher schrei-
ben wir uns Eine Vorstellung der Einen Sache oder Per-
son zu.

Was heisst es nun, wenn man sagt: das Ich ist
im Bewusstseyn gegeben als die Identität des Denkenden
und des Gedachten? In Beziehung auf diese Identität
ungefähr soviel, als ob Jemand sagt: der Schreibetisch,
an welchem ich heute arbeite, ist mir gegeben als der-
selbe, an welchem ich gestern schrieb. Soll dies bedeu-
ten: die Wahrnehmung dieses Tisches, heute und ge-
stern, ist eine und dieselbe, so liegt die Täuschung am
Tage. Gerade im Gegentheil, das Quantum Empfäng-
lichkeit, welches gestern durch die Wahrnehmung er-
schöpft wurde, trägt das seinige bey, um die heutige
neue Wahrnehmung etwas geringer zu machen (§. 100.);
denn das nämliche Vorstellen kann sich nicht zweymal
erzeugen. Dennoch entsteht, gemäss der heutigen Em-
pfänglichkeit, heute eine neue Wahrnehmung; diese be-

merken, daſs sehr allgemein eine Vorstellung
für eine einzige gehalten wird, wenn sie schon
nichts anders ist als ein Aggregat von zum
Theil verschmolzenen Elementar-Vorstellun-
gen
. Wir sehen uns einen Gegenstand eine Weile an;
dann kehren wir uns weg und sagen: nun habe ich doch
eine Vorstellung von dem Dinge. Niemanden fällt es
ein, daſs sein Vorstellen des Gegenstandes eine Total-
kraft ist, die während des ganzen Zeitverlauſs sich aus
allen den unendlich vielen momentanen Auffassungen ge-
bildet hat; nach §. 94. u. s. w. Oder wir gehn mit ei-
nem Werkzeuge, mit einer Person um; wir sehen sie
vielemal, wir nehmen Gehör und Gefühl zu Hülfe, um
unsre Kenntniſs davon zu vollenden; viele Totalkräfte,
deren jede der eben erwähnten gleicht, sind hier ver-
schmolzen, und wirken zusammen in unsrer erlangten
Kenntniſs: allein unbekannt mit dem Mechanismus der
Vorstellungen halten wir uns an das Vorgestellte;
dieses wird für Eins genommen, weil die ganze Comple-
xion aller jener Totalkräfte zusammenwirkt; daher schrei-
ben wir uns Eine Vorstellung der Einen Sache oder Per-
son zu.

Was heiſst es nun, wenn man sagt: das Ich ist
im Bewuſstseyn gegeben als die Identität des Denkenden
und des Gedachten? In Beziehung auf diese Identität
ungefähr soviel, als ob Jemand sagt: der Schreibetisch,
an welchem ich heute arbeite, ist mir gegeben als der-
selbe, an welchem ich gestern schrieb. Soll dies bedeu-
ten: die Wahrnehmung dieses Tisches, heute und ge-
stern, ist eine und dieselbe, so liegt die Täuschung am
Tage. Gerade im Gegentheil, das Quantum Empfäng-
lichkeit, welches gestern durch die Wahrnehmung er-
schöpft wurde, trägt das seinige bey, um die heutige
neue Wahrnehmung etwas geringer zu machen (§. 100.);
denn das nämliche Vorstellen kann sich nicht zweymal
erzeugen. Dennoch entsteht, gemäſs der heutigen Em-
pfänglichkeit, heute eine neue Wahrnehmung; diese be-

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[290/0325] merken, daſs sehr allgemein eine Vorstellung für eine einzige gehalten wird, wenn sie schon nichts anders ist als ein Aggregat von zum Theil verschmolzenen Elementar-Vorstellun- gen. Wir sehen uns einen Gegenstand eine Weile an; dann kehren wir uns weg und sagen: nun habe ich doch eine Vorstellung von dem Dinge. Niemanden fällt es ein, daſs sein Vorstellen des Gegenstandes eine Total- kraft ist, die während des ganzen Zeitverlauſs sich aus allen den unendlich vielen momentanen Auffassungen ge- bildet hat; nach §. 94. u. s. w. Oder wir gehn mit ei- nem Werkzeuge, mit einer Person um; wir sehen sie vielemal, wir nehmen Gehör und Gefühl zu Hülfe, um unsre Kenntniſs davon zu vollenden; viele Totalkräfte, deren jede der eben erwähnten gleicht, sind hier ver- schmolzen, und wirken zusammen in unsrer erlangten Kenntniſs: allein unbekannt mit dem Mechanismus der Vorstellungen halten wir uns an das Vorgestellte; dieses wird für Eins genommen, weil die ganze Comple- xion aller jener Totalkräfte zusammenwirkt; daher schrei- ben wir uns Eine Vorstellung der Einen Sache oder Per- son zu. Was heiſst es nun, wenn man sagt: das Ich ist im Bewuſstseyn gegeben als die Identität des Denkenden und des Gedachten? In Beziehung auf diese Identität ungefähr soviel, als ob Jemand sagt: der Schreibetisch, an welchem ich heute arbeite, ist mir gegeben als der- selbe, an welchem ich gestern schrieb. Soll dies bedeu- ten: die Wahrnehmung dieses Tisches, heute und ge- stern, ist eine und dieselbe, so liegt die Täuschung am Tage. Gerade im Gegentheil, das Quantum Empfäng- lichkeit, welches gestern durch die Wahrnehmung er- schöpft wurde, trägt das seinige bey, um die heutige neue Wahrnehmung etwas geringer zu machen (§. 100.); denn das nämliche Vorstellen kann sich nicht zweymal erzeugen. Dennoch entsteht, gemäſs der heutigen Em- pfänglichkeit, heute eine neue Wahrnehmung; diese be-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/325>, abgerufen am 22.11.2024.