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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Zuletzt kommt das Prädicat, eben darum weil dessen
Vorstellung erst noch im Steigen begriffen ist. -- Leichte
Beyspiele von der erschwerten und verzögerten Verschmel-
zung sind die, wo das Subject in einer Veränderung eines
seiner Merkmale beobachtet wird; z. B. der Feind flieht,
oder wo das Urtheil einen Beweis erfordert, das heisst,
wo die Verschmelzung nur mit Hülfe eines Mittelgliedes
geschehen kann. Im ersten Falle entsteht eine Hem-
mung zwischen dem neuen Merkmale und dem frühern
entgegengesetzten, das jetzt entweicht. Im zweyten Falle
haben andre mögliche Vorstellungsarten so lange die
Freyheit, sich einzudrängen, bis der Beweis geliefert und
durchdacht ist. Wenn indessen die andern möglichen
Vorstellungsarten nicht erwachen, vielleicht weil sie noch
gar nicht vorhanden sind, so geschieht auch hier die
Verschmelzung bald genug, wie sich bey der Leichtgläu-
bigkeit zeigt, die nicht urtheilt, sondern eine einfachere
Wirkung des psychologischen Mechanismus ist. Man
denke sich demnach überhaupt das Subject als eine un-
bestimmte Frage; das heisst, als eine solche, die kein
bestimmtes Prädicat angiebt; denn wenn auch dieses in
manchen Fällen angegeben wird, (in der bestimmten
Frage), so hängt doch davon die Bildung des Urtheils
nicht ab. Wohl aber musste das Subject selbst irgend
welchen
Bestimmungen zustreben.

Hier ist auch der Ort für die wichtige Untersuchung
über den Ursprung des Begriffs der Verneinung.
Denn für angeboren kann derselbe eben so wenig gelten,
als irgend ein anderer; gegeben werden kann er auch
nicht, denn alles Wahrgenommene ist ein Positives.
Für sich allein ist er bedeutungslos; er muss auf etwas
bezogen werden, das er verneine. Und selbst der Ge-
danke eines blossen Non A würde in keines Menschen
Kopf kommen, so lange keine Veranlassung wäre, den
bis dahin positiv gedachten Begriff von A jetzt auf ein-
mal als ein aus irgend einem Gedanken Auszustossendes,
Wegzuschaffendes, oder auch nur als ein daran Fehlen-

Zuletzt kommt das Prädicat, eben darum weil dessen
Vorstellung erst noch im Steigen begriffen ist. — Leichte
Beyspiele von der erschwerten und verzögerten Verschmel-
zung sind die, wo das Subject in einer Veränderung eines
seiner Merkmale beobachtet wird; z. B. der Feind flieht,
oder wo das Urtheil einen Beweis erfordert, das heiſst,
wo die Verschmelzung nur mit Hülfe eines Mittelgliedes
geschehen kann. Im ersten Falle entsteht eine Hem-
mung zwischen dem neuen Merkmale und dem frühern
entgegengesetzten, das jetzt entweicht. Im zweyten Falle
haben andre mögliche Vorstellungsarten so lange die
Freyheit, sich einzudrängen, bis der Beweis geliefert und
durchdacht ist. Wenn indessen die andern möglichen
Vorstellungsarten nicht erwachen, vielleicht weil sie noch
gar nicht vorhanden sind, so geschieht auch hier die
Verschmelzung bald genug, wie sich bey der Leichtgläu-
bigkeit zeigt, die nicht urtheilt, sondern eine einfachere
Wirkung des psychologischen Mechanismus ist. Man
denke sich demnach überhaupt das Subject als eine un-
bestimmte Frage; das heiſst, als eine solche, die kein
bestimmtes Prädicat angiebt; denn wenn auch dieses in
manchen Fällen angegeben wird, (in der bestimmten
Frage), so hängt doch davon die Bildung des Urtheils
nicht ab. Wohl aber muſste das Subject selbst irgend
welchen
Bestimmungen zustreben.

Hier ist auch der Ort für die wichtige Untersuchung
über den Ursprung des Begriffs der Verneinung.
Denn für angeboren kann derselbe eben so wenig gelten,
als irgend ein anderer; gegeben werden kann er auch
nicht, denn alles Wahrgenommene ist ein Positives.
Für sich allein ist er bedeutungslos; er muſs auf etwas
bezogen werden, das er verneine. Und selbst der Ge-
danke eines bloſsen Non A würde in keines Menschen
Kopf kommen, so lange keine Veranlassung wäre, den
bis dahin positiv gedachten Begriff von A jetzt auf ein-
mal als ein aus irgend einem Gedanken Auszustoſsendes,
Wegzuschaffendes, oder auch nur als ein daran Fehlen-

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[188/0223] Zuletzt kommt das Prädicat, eben darum weil dessen Vorstellung erst noch im Steigen begriffen ist. — Leichte Beyspiele von der erschwerten und verzögerten Verschmel- zung sind die, wo das Subject in einer Veränderung eines seiner Merkmale beobachtet wird; z. B. der Feind flieht, oder wo das Urtheil einen Beweis erfordert, das heiſst, wo die Verschmelzung nur mit Hülfe eines Mittelgliedes geschehen kann. Im ersten Falle entsteht eine Hem- mung zwischen dem neuen Merkmale und dem frühern entgegengesetzten, das jetzt entweicht. Im zweyten Falle haben andre mögliche Vorstellungsarten so lange die Freyheit, sich einzudrängen, bis der Beweis geliefert und durchdacht ist. Wenn indessen die andern möglichen Vorstellungsarten nicht erwachen, vielleicht weil sie noch gar nicht vorhanden sind, so geschieht auch hier die Verschmelzung bald genug, wie sich bey der Leichtgläu- bigkeit zeigt, die nicht urtheilt, sondern eine einfachere Wirkung des psychologischen Mechanismus ist. Man denke sich demnach überhaupt das Subject als eine un- bestimmte Frage; das heiſst, als eine solche, die kein bestimmtes Prädicat angiebt; denn wenn auch dieses in manchen Fällen angegeben wird, (in der bestimmten Frage), so hängt doch davon die Bildung des Urtheils nicht ab. Wohl aber muſste das Subject selbst irgend welchen Bestimmungen zustreben. Hier ist auch der Ort für die wichtige Untersuchung über den Ursprung des Begriffs der Verneinung. Denn für angeboren kann derselbe eben so wenig gelten, als irgend ein anderer; gegeben werden kann er auch nicht, denn alles Wahrgenommene ist ein Positives. Für sich allein ist er bedeutungslos; er muſs auf etwas bezogen werden, das er verneine. Und selbst der Ge- danke eines bloſsen Non A würde in keines Menschen Kopf kommen, so lange keine Veranlassung wäre, den bis dahin positiv gedachten Begriff von A jetzt auf ein- mal als ein aus irgend einem Gedanken Auszustoſsendes, Wegzuschaffendes, oder auch nur als ein daran Fehlen-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/223>, abgerufen am 06.05.2024.