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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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danken gehalten, dessen die menschliche Ver-
nunft mächtig werden könne. Für die blosse
Contemplation ist Gott ohne Welt ein völliges
Dunkel; sie will Etwas erblicken; sie will Vieles
umfassen; sie will Alles vereinigen. Sie sucht
für die schon anderwärts erworbenen Kenntnisse
einen Ruhepunct des Wissens. Sie verlangt
auch eine Art von Gefühlsphilosophie; aber das
Gefühl der blossen Betrachtung will sich nicht
vermengen mit den andern, dem menschlichen
Leben entsprossenen Gefühlen, denen die Vor-
sehung
Bedürfniss und Linderung ist. Den-
noch lassen auch diese Gefühle sich nicht hin-
wegschaffen; das Leben erzeugt sie jeden Au-
genblick von neuem. Daher wird der Streit
fortdauern; und die Philosophie wird in diesem
Falle schwach bleiben durch innern Krieg! Oder
wollen wir annehmen, eine von beyden Partheyen
besönne sich auf ihr eigenes Unrecht, und ginge
freywillig über zu der andern? Vielleicht füh-
len die in der Burg, dass sie Unrecht haben;
dass sie engherzig einem lediglich contemplati-
ven Wohlbehagen sich hingaben; vielleicht er-
weitert sich ihr Gemüth, und sie lassen nun das
wärmere Gefühl gelten für das wahre. Was
wird daraus entstehn? Man verbannt die Klar-
heit der Reflexion, unterjocht den kalten Ver-
stand; es giebt alsdann nur positive Auctoritä-
ten im geistigen Gebiete; man glaubt und ahn-
det, weil man glauben und ahnden will. Die
Philosophie wird in diesem zweyten Falle un-
vermeidlich eine alte Geschichte, eine veraltete
Sitte. Redekünste treten an ihre Stelle; man
disputirt höchstens noch zum Schein; der klügste

danken gehalten, dessen die menschliche Ver-
nunft mächtig werden könne. Für die bloſse
Contemplation ist Gott ohne Welt ein völliges
Dunkel; sie will Etwas erblicken; sie will Vieles
umfassen; sie will Alles vereinigen. Sie sucht
für die schon anderwärts erworbenen Kenntnisse
einen Ruhepunct des Wissens. Sie verlangt
auch eine Art von Gefühlsphilosophie; aber das
Gefühl der bloſsen Betrachtung will sich nicht
vermengen mit den andern, dem menschlichen
Leben entsprossenen Gefühlen, denen die Vor-
sehung
Bedürfniſs und Linderung ist. Den-
noch lassen auch diese Gefühle sich nicht hin-
wegschaffen; das Leben erzeugt sie jeden Au-
genblick von neuem. Daher wird der Streit
fortdauern; und die Philosophie wird in diesem
Falle schwach bleiben durch innern Krieg! Oder
wollen wir annehmen, eine von beyden Partheyen
besönne sich auf ihr eigenes Unrecht, und ginge
freywillig über zu der andern? Vielleicht füh-
len die in der Burg, daſs sie Unrecht haben;
daſs sie engherzig einem lediglich contemplati-
ven Wohlbehagen sich hingaben; vielleicht er-
weitert sich ihr Gemüth, und sie lassen nun das
wärmere Gefühl gelten für das wahre. Was
wird daraus entstehn? Man verbannt die Klar-
heit der Reflexion, unterjocht den kalten Ver-
stand; es giebt alsdann nur positive Auctoritä-
ten im geistigen Gebiete; man glaubt und ahn-
det, weil man glauben und ahnden will. Die
Philosophie wird in diesem zweyten Falle un-
vermeidlich eine alte Geschichte, eine veraltete
Sitte. Redekünste treten an ihre Stelle; man
disputirt höchstens noch zum Schein; der klügste

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[X/0017] danken gehalten, dessen die menschliche Ver- nunft mächtig werden könne. Für die bloſse Contemplation ist Gott ohne Welt ein völliges Dunkel; sie will Etwas erblicken; sie will Vieles umfassen; sie will Alles vereinigen. Sie sucht für die schon anderwärts erworbenen Kenntnisse einen Ruhepunct des Wissens. Sie verlangt auch eine Art von Gefühlsphilosophie; aber das Gefühl der bloſsen Betrachtung will sich nicht vermengen mit den andern, dem menschlichen Leben entsprossenen Gefühlen, denen die Vor- sehung Bedürfniſs und Linderung ist. Den- noch lassen auch diese Gefühle sich nicht hin- wegschaffen; das Leben erzeugt sie jeden Au- genblick von neuem. Daher wird der Streit fortdauern; und die Philosophie wird in diesem Falle schwach bleiben durch innern Krieg! Oder wollen wir annehmen, eine von beyden Partheyen besönne sich auf ihr eigenes Unrecht, und ginge freywillig über zu der andern? Vielleicht füh- len die in der Burg, daſs sie Unrecht haben; daſs sie engherzig einem lediglich contemplati- ven Wohlbehagen sich hingaben; vielleicht er- weitert sich ihr Gemüth, und sie lassen nun das wärmere Gefühl gelten für das wahre. Was wird daraus entstehn? Man verbannt die Klar- heit der Reflexion, unterjocht den kalten Ver- stand; es giebt alsdann nur positive Auctoritä- ten im geistigen Gebiete; man glaubt und ahn- det, weil man glauben und ahnden will. Die Philosophie wird in diesem zweyten Falle un- vermeidlich eine alte Geschichte, eine veraltete Sitte. Redekünste treten an ihre Stelle; man disputirt höchstens noch zum Schein; der klügste

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. X. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/17>, abgerufen am 26.04.2024.