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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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eignes Fachwerk für die Gefühle; darum sind seine
Affecten, Begehrungen und Verabscheuungen *).

Wie sehr Unrecht thut man doch gerade den edel-
sten Gefühlen, indem man sie zu einem, noch obendrein
unbestimmbaren, Mittelmaass verurtheilt, auf dass sie nicht
in Affect übergehn! Man betrachte das Selbstgefühl, mit
welchem Jemand sich bey empfangener Kränkung vor
Gegen-Beleidigungen hütet, indem er die Hoffnung fasst,
seine Ehre werde vest genug stehn, und er dürfe ver-
zeihen! Wenn dieses Selbstgefühl auch nicht ohne Affect
ist, so wird doch Niemand den Affect für so stark hal-
ten, wie dieses höchst lebhafte Gefühl. Oder man nehme
das reinste, zugleich äusserst süsse, Gefühl der Freund-
schaft, besonders in Augenblicken, nicht der Noth und
Dienstleistung, sondern des blossen Gesprächs, welches
eine vollkommene Zusammenstimmung der innersten Ge-
sinnungen entfaltet. Kein anderes Gefühl wird mehr als
dieses, beglücken; aber der Affect, der es begleitet, ist
äusserst gelinde; die Seele kommt dadurch eher in Ruhe
als aus der Ruhe. Man nehme endlich die Gemüths-
stimmung aller charactervollen Männer, in den Augen-
blicken, da sie etwas wichtiges vest beschliessen: gewiss
ist der Entschluss vom lebhaftesten Gefühle begleitet;
aber Affecten konnten sich eher in die vorgängige Ue-
berlegung mischen; in den Abschluss der Ueberlegung
kann bey dem besonnenen Manne sich der Affect nur
durch einen Rest menschlicher Schwäche einen geringen
Einfluss verschaffen.

§. 107.

Wie der Affect zum Gefühle, so soll sich die Lei-
denschaft zur Begierde verhalten **). Werden wir das
zweyte Verhältniss gesunder finden als das erste?

*) Affectus sunt actus animae, quibus quid vehementer vel ap-
petit, vel aversatur; vel sunt actus vehementiores appetitus sensitivi
et aversationis sensitivae. Wolfii Psych. empirica
§. 603.
**) Carus Psychol. S. 306.

eignes Fachwerk für die Gefühle; darum sind seine
Affecten, Begehrungen und Verabscheuungen *).

Wie sehr Unrecht thut man doch gerade den edel-
sten Gefühlen, indem man sie zu einem, noch obendrein
unbestimmbaren, Mittelmaaſs verurtheilt, auf daſs sie nicht
in Affect übergehn! Man betrachte das Selbstgefühl, mit
welchem Jemand sich bey empfangener Kränkung vor
Gegen-Beleidigungen hütet, indem er die Hoffnung faſst,
seine Ehre werde vest genug stehn, und er dürfe ver-
zeihen! Wenn dieses Selbstgefühl auch nicht ohne Affect
ist, so wird doch Niemand den Affect für so stark hal-
ten, wie dieses höchst lebhafte Gefühl. Oder man nehme
das reinste, zugleich äuſserst süſse, Gefühl der Freund-
schaft, besonders in Augenblicken, nicht der Noth und
Dienstleistung, sondern des bloſsen Gesprächs, welches
eine vollkommene Zusammenstimmung der innersten Ge-
sinnungen entfaltet. Kein anderes Gefühl wird mehr als
dieses, beglücken; aber der Affect, der es begleitet, ist
äuſserst gelinde; die Seele kommt dadurch eher in Ruhe
als aus der Ruhe. Man nehme endlich die Gemüths-
stimmung aller charactervollen Männer, in den Augen-
blicken, da sie etwas wichtiges vest beschlieſsen: gewiſs
ist der Entschluſs vom lebhaftesten Gefühle begleitet;
aber Affecten konnten sich eher in die vorgängige Ue-
berlegung mischen; in den Abschluſs der Ueberlegung
kann bey dem besonnenen Manne sich der Affect nur
durch einen Rest menschlicher Schwäche einen geringen
Einfluſs verschaffen.

§. 107.

Wie der Affect zum Gefühle, so soll sich die Lei-
denschaft zur Begierde verhalten **). Werden wir das
zweyte Verhältniſs gesunder finden als das erste?

*) Affectus ſunt actus animae, quibus quid vehementer vel ap-
petit, vel averſatur; vel ſunt actus vehementiores appetitus ſenſitivi
et averſationis ſenſitivae. Wolfii Pſych. empirica
§. 603.
**) Carus Psychol. S. 306.
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[104/0139] eignes Fachwerk für die Gefühle; darum sind seine Affecten, Begehrungen und Verabscheuungen *). Wie sehr Unrecht thut man doch gerade den edel- sten Gefühlen, indem man sie zu einem, noch obendrein unbestimmbaren, Mittelmaaſs verurtheilt, auf daſs sie nicht in Affect übergehn! Man betrachte das Selbstgefühl, mit welchem Jemand sich bey empfangener Kränkung vor Gegen-Beleidigungen hütet, indem er die Hoffnung faſst, seine Ehre werde vest genug stehn, und er dürfe ver- zeihen! Wenn dieses Selbstgefühl auch nicht ohne Affect ist, so wird doch Niemand den Affect für so stark hal- ten, wie dieses höchst lebhafte Gefühl. Oder man nehme das reinste, zugleich äuſserst süſse, Gefühl der Freund- schaft, besonders in Augenblicken, nicht der Noth und Dienstleistung, sondern des bloſsen Gesprächs, welches eine vollkommene Zusammenstimmung der innersten Ge- sinnungen entfaltet. Kein anderes Gefühl wird mehr als dieses, beglücken; aber der Affect, der es begleitet, ist äuſserst gelinde; die Seele kommt dadurch eher in Ruhe als aus der Ruhe. Man nehme endlich die Gemüths- stimmung aller charactervollen Männer, in den Augen- blicken, da sie etwas wichtiges vest beschlieſsen: gewiſs ist der Entschluſs vom lebhaftesten Gefühle begleitet; aber Affecten konnten sich eher in die vorgängige Ue- berlegung mischen; in den Abschluſs der Ueberlegung kann bey dem besonnenen Manne sich der Affect nur durch einen Rest menschlicher Schwäche einen geringen Einfluſs verschaffen. §. 107. Wie der Affect zum Gefühle, so soll sich die Lei- denschaft zur Begierde verhalten **). Werden wir das zweyte Verhältniſs gesunder finden als das erste? *) Affectus ſunt actus animae, quibus quid vehementer vel ap- petit, vel averſatur; vel ſunt actus vehementiores appetitus ſenſitivi et averſationis ſenſitivae. Wolfii Pſych. empirica §. 603. **) Carus Psychol. S. 306.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/139>, abgerufen am 21.11.2024.