gen des Bewusstseyns, welche nicht Gefühle genannt werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent- fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde er sie fühlen, wenn er Bewusstseyn hätte; und immer anders und anders fühlen, je nachdem grössere oder klei- nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären. Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müsste mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede- nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider einander wirkenden Kräften gedreht würde.
Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor- stellungen sich im Bewusstseyn befinden; ganz andre Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin- gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann. Folglich ist es unrichtig, dass die Affecte ge- steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie- denes Maass für Affecten und Gefühle; ja die ersten und die andern gehören gar nicht zusam- men wie Art und Gattung; sondern es sind ver- schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man- nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See- lenzustände.
Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge- schlossen wurde, das liegt schon bey blosser Analyse so klar vor Augen, dass es nie hätte können verfehlt wer- den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen, Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh- rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle seyn! -- Anders schloss Wolff; er hatte noch kein
gen des Bewuſstseyns, welche nicht Gefühle genannt werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent- fernungen von der Stütze des Hebels, an ihm angebracht werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde er sie fühlen, wenn er Bewuſstseyn hätte; und immer anders und anders fühlen, je nachdem gröſsere oder klei- nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären. Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müſste mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede- nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider einander wirkenden Kräften gedreht würde.
Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor- stellungen sich im Bewuſstseyn befinden; ganz andre Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin- gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann. Folglich ist es unrichtig, daſs die Affecte ge- steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie- denes Maaſs für Affecten und Gefühle; ja die ersten und die andern gehören gar nicht zusam- men wie Art und Gattung; sondern es sind ver- schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man- nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See- lenzustände.
Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge- schlossen wurde, das liegt schon bey bloſser Analyse so klar vor Augen, daſs es nie hätte können verfehlt wer- den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen, Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh- rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle seyn! — Anders schloſs Wolff; er hatte noch kein
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gen des Bewuſstseyns, welche nicht Gefühle genannt
werden. Aber das Gleichgewicht kann bestehn, während
sehr verschiedene Gewichte, in sehr verschiedenen Ent-
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werden. Diese drehen den Hebel nicht; gleichwohl würde
er sie fühlen, wenn er Bewuſstseyn hätte; und immer
anders und anders fühlen, je nachdem gröſsere oder klei-
nere Gewichte an ihm so oder anders angebracht wären.
Ja auch alsdann, wenn er wirklich gedreht würde, müſste
mit jeder seiner Lagen ein gar mannigfaltig verschiede-
nes Gefühl verbunden seyn, je nachdem er von vielen
oder wenigen, starken oder schwachen, mit oder wider
einander wirkenden Kräften gedreht würde.
Also bey den Gefühlen soll es nicht vorzugsweise
darauf ankommen, wie viele und wie weit gehemmte Vor-
stellungen sich im Bewuſstseyn befinden; ganz andre
Umstände sollen die Stärke der Gefühle bestimmen. Hin-
gegen bey den Affecten kommt es nach dem Obigen gar
sehr darauf an, ob mehr oder weniger Vorstellungen
wach seyen, als mit ihrem Gleichgewichte bestehen kann.
Folglich ist es unrichtig, daſs die Affecte ge-
steigerte Gefühle seyen; es giebt ein verschie-
denes Maaſs für Affecten und Gefühle; ja die
ersten und die andern gehören gar nicht zusam-
men wie Art und Gattung; sondern es sind ver-
schiedenartige, wiewohl sehr häufig und man-
nigfaltig verbundene, Bestimmungen der See-
lenzustände.
Was hier mit Hülfe synthetischer Principien ge-
schlossen wurde, das liegt schon bey bloſser Analyse so
klar vor Augen, daſs es nie hätte können verfehlt wer-
den, wären die allgemeinen Klassenbegriffe, Vorstellen,
Wollen und Fühlen, denen alles sollte untergeordnet
werden, nicht schon im Voraus hingestellt gewesen. Die
Affecten sind freylich weder Vorstellungen noch Begeh-
rungen; also (meinte man,) müssen sie wohl Gefühle
seyn! — Anders schloſs Wolff; er hatte noch kein
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/138>, abgerufen am 21.11.2024.
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