Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

Vorrede.

Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kants
und Fichte's Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre
Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich
wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungs-
geiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit
mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte
ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen
Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des
Schwindels, und eine dritte der Abspannung ge-
folgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nach-
kam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu
lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft
sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet,
ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu besitzen.
Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hof-
fen, dass, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind,
nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu
bedienen.

Kant wurde Idealist wider seinen Willen;
er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge an sich
nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit
behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich
dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit
einigem Widerstreben; aber ihm geschah es
wider seine Absicht, dass er ein von tausend

* 2

Vorrede.

Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kants
und Fichte’s Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre
Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich
wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungs-
geiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit
mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte
ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen
Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des
Schwindels, und eine dritte der Abspannung ge-
folgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nach-
kam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu
lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft
sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet,
ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu besitzen.
Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hof-
fen, daſs, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind,
nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu
bedienen.

Kant wurde Idealist wider seinen Willen;
er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge an sich
nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit
behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich
dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit
einigem Widerstreben; aber ihm geschah es
wider seine Absicht, daſs er ein von tausend

* 2
<TEI>
  <text>
    <front>
      <pb facs="#f0009" n="[III]"/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <div n="1">
        <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Vorrede</hi>.</hi> </head><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <p><hi rendition="#in">D</hi>ie Philosophie stand in ihrer Blüthe zu <hi rendition="#g">Kants</hi><lb/>
und <hi rendition="#g">Fichte&#x2019;s</hi> Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre<lb/>
Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich<lb/>
wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungs-<lb/>
geiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit<lb/>
mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte<lb/>
ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen<lb/>
Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des<lb/>
Schwindels, und eine dritte der Abspannung ge-<lb/>
folgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nach-<lb/>
kam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu<lb/>
lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft<lb/>
sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet,<lb/>
ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu besitzen.<lb/>
Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hof-<lb/>
fen, da&#x017F;s, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind,<lb/>
nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu<lb/>
bedienen.</p><lb/>
        <p><hi rendition="#g">Kant</hi> wurde Idealist wider seinen Willen;<lb/>
er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge an sich<lb/>
nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit<lb/>
behauptete, sie zu erkennen. <hi rendition="#g">Fichte</hi> ergab sich<lb/>
dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit<lb/>
einigem Widerstreben; aber ihm geschah es<lb/>
wider seine Absicht, da&#x017F;s er ein von tausend<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">* 2</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[[III]/0009] Vorrede. Die Philosophie stand in ihrer Blüthe zu Kants und Fichte’s Zeiten; jetzt welkt sie, allein ihre Wurzeln sind unvergänglich, und sie kann sich wieder aufrichten, wenn dem Untersuchungs- geiste neue Nahrung dargeboten wird. Damit mir dieses mein Vorhaben erleichtert werde, bitte ich den Leser, sich in jene Periode des eifrigen Strebens, der unglücklicherweise eine zweyte des Schwindels, und eine dritte der Abspannung ge- folgt ist, zurückzuversetzen; über alles, was nach- kam, aber fürs erste einen Schleyer fallen zu lassen. Es ist kein Wunder, wenn eine Kraft sich verzehrt und erschöpft, indem sie arbeitet, ohne die nothwendigen Hülfsmittel zu besitzen. Aber es ist zu wünschen, und vielleicht zu hof- fen, daſs, nachdem die Hülfsmittel gefunden sind, nun auch der Wille zurückkehre, sich ihrer zu bedienen. Kant wurde Idealist wider seinen Willen; er hat seine Anhänglichkeit an die Dinge an sich nie verleugnet, obgleich er die Unmöglichkeit behauptete, sie zu erkennen. Fichte ergab sich dem Idealismus williger, wiewohl auch noch mit einigem Widerstreben; aber ihm geschah es wider seine Absicht, daſs er ein von tausend * 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/9
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. [III]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/9>, abgerufen am 23.11.2024.