Im §. 41. des genannten Werkes finden wir, im Widerspruch gegen Fichte's erste Grundgedanken, die Behauptung: "Unsere Vernunft besitzt ein reines Selbst- bewusstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin. Dieses ist aber nicht zugleich mit der innern Anschauung gege- ben, vielmehr ist es gar keine Anschauung, son- dern nur ein unbestimmtes Gefühl." Es folgt ein Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen Bemerkun- gen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die Bemerkung, dass das reine Selbstbewusstseyn kein Ob- ject hat *); woraus gefolgert wird, es sey keine An- schauung, sondern ein unbestimmtes Gefühl. Das erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine Selbstbewusstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn soll, so ist es ein klarer Widerspruch; und man kann davon gar nichts, auch nicht ein unbestimmtes Gefühl übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes seyn würde, während das Selbstbewusstseyn seinem Begriffe nach überall kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn soll. Vielmehr muss man anerkennen, dass unsre Be- hauptung, es gebe ein reines Selbstbewusstseyn, eine von jenen Abstractionen ist, die wir von den besondern Selbst- anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit un- srer Persönlichkeit wegen, für etwas angesehen haben, das wohl ohne die besondern Anschauungen für sich be- stehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede seines Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind nun allerdings genöthigt, uns einen solchen Begriff von uns selbst zu machen; wir sind aber eben so wohl ge- nöthigt einzugestehen, dass dieser Begriff ohne allen Sinn, folglich auch keine wahre Erkenntniss eines realen Ge- genstandes sey; -- dass es kein reines Selbstbewusst- seyn, keine blosse Ichheit wirklich gebe; -- sondern dass wir den erwähnten Begriff vielmehr als Anfangspunct einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau-
*) Man vergleiche unten §. 27. im Anfange.
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Im §. 41. des genannten Werkes finden wir, im Widerspruch gegen Fichte’s erste Grundgedanken, die Behauptung: „Unsere Vernunft besitzt ein reines Selbst- bewuſstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin. Dieses ist aber nicht zugleich mit der innern Anschauung gege- ben, vielmehr ist es gar keine Anschauung, son- dern nur ein unbestimmtes Gefühl.“ Es folgt ein Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen Bemerkun- gen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die Bemerkung, daſs das reine Selbstbewuſstseyn kein Ob- ject hat *); woraus gefolgert wird, es sey keine An- schauung, sondern ein unbestimmtes Gefühl. Das erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine Selbstbewuſstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn soll, so ist es ein klarer Widerspruch; und man kann davon gar nichts, auch nicht ein unbestimmtes Gefühl übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes seyn würde, während das Selbstbewuſstseyn seinem Begriffe nach überall kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn soll. Vielmehr muſs man anerkennen, daſs unsre Be- hauptung, es gebe ein reines Selbstbewuſstseyn, eine von jenen Abstractionen ist, die wir von den besondern Selbst- anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit un- srer Persönlichkeit wegen, für etwas angesehen haben, das wohl ohne die besondern Anschauungen für sich be- stehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede seines Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind nun allerdings genöthigt, uns einen solchen Begriff von uns selbst zu machen; wir sind aber eben so wohl ge- nöthigt einzugestehen, daſs dieser Begriff ohne allen Sinn, folglich auch keine wahre Erkenntniſs eines realen Ge- genstandes sey; — daſs es kein reines Selbstbewuſst- seyn, keine bloſse Ichheit wirklich gebe; — sondern daſs wir den erwähnten Begriff vielmehr als Anfangspunct einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau-
*) Man vergleiche unten §. 27. im Anfange.
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Im §. 41. des genannten Werkes finden wir, im
Widerspruch gegen Fichte’s erste Grundgedanken, die
Behauptung: „Unsere Vernunft besitzt ein reines Selbst-
bewuſstseyn, welches wir aussprechen: Ich bin. Dieses
ist aber nicht zugleich mit der innern Anschauung gege-
ben, vielmehr ist es gar keine Anschauung, son-
dern nur ein unbestimmtes Gefühl.“ Es folgt ein
Beweis, der in zweyen Gliedern mit richtigen Bemerkun-
gen anhebt, und mit Erschleichungen endigt. Zuerst die
Bemerkung, daſs das reine Selbstbewuſstseyn kein Ob-
ject hat *); woraus gefolgert wird, es sey keine An-
schauung, sondern ein unbestimmtes Gefühl. Das
erste ist wahr, und das zweyte falsch. Weil das reine
Selbstbewuſstseyn eine Vorstellung ohne Gegenstand seyn
soll, so ist es ein klarer Widerspruch; und man kann
davon gar nichts, auch nicht ein unbestimmtes Gefühl
übrig behalten; welches ein Gefühl ohne Gefühltes seyn
würde, während das Selbstbewuſstseyn seinem Begriffe
nach überall kein Gefühl, sondern eine Vorstellung seyn
soll. Vielmehr muſs man anerkennen, daſs unsre Be-
hauptung, es gebe ein reines Selbstbewuſstseyn, eine von
jenen Abstractionen ist, die wir von den besondern Selbst-
anschauungen hergenommen, dann aber, der Einheit un-
srer Persönlichkeit wegen, für etwas angesehen haben,
das wohl ohne die besondern Anschauungen für sich be-
stehen, oder, wie Herr Fries im zweyten Gliede seines
Beweises meint, zum Grunde liegen könne. Wir sind
nun allerdings genöthigt, uns einen solchen Begriff von
uns selbst zu machen; wir sind aber eben so wohl ge-
nöthigt einzugestehen, daſs dieser Begriff ohne allen Sinn,
folglich auch keine wahre Erkenntniſs eines realen Ge-
genstandes sey; — daſs es kein reines Selbstbewuſst-
seyn, keine bloſse Ichheit wirklich gebe; — sondern
daſs wir den erwähnten Begriff vielmehr als Anfangspunct
einer Theorie, als einen wissenschaftlichen Stoff gebrau-
*) Man vergleiche unten §. 27. im Anfange.
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/87>, abgerufen am 22.11.2024.
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