den Raum und die Zeit zu Objecten seines Denkens. Kein Wunder, dass seine Antworten sich auf den Welt- raum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper wegge- dacht werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegeben- heiten geschehn; dergestalt, dass dieser Raum und diese Zeit die nothwendigen Voraussetzungen der Sinnenwelt selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung des Etwas. Gewiss die seltsamste und ungereimteste al- ler Täuschungen!
In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit, dass Körper da seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit, dass Begebenheiten geschehen. Diese Möglichkeiten las- sen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal wirk- liche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehn- tes und Begränztes aufgefasst, und nachdem einmal wirkliche Begebenheiten als dauernd eine bestimmte Zeit, und als solche, die gerade nicht früher eintraten und nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade dasselbe gilt von allem, was sich jemals in der Wirklich- keit vorgefunden hat. Man denke einmal alle wirklichen Töne und Laute, alles Hörbare hinweg! Das kann man; aber die Möglichkeit, dass Töne gehört werden könnten, kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Re- geln der Musik gerade so unwandelbar stehn, wie die Geometrie ohne Körperwelt. Das Verhältniss der Ter- zen, Quinten, Octaven; die Nothwendigkeit, den Leitton nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin auf- zulösen, dies alles steht vest a priori, ob nun in diesem Augenblick wirkliche Saiten und Ohren vorhanden sind oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben hinweg; aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leug- nen; folglich auch nicht den Satz, dass das Farbendrey- eck zwey Dimensionen, hingegen die Tonlinie nur eine Dimension habe. Nichts desto weniger beziehen sich alle diese Sätze auf vorausgesetzte Töne und Farben, die wirklich gehört und gesehen werden könnten; und eben
den Raum und die Zeit zu Objecten seines Denkens. Kein Wunder, daſs seine Antworten sich auf den Welt- raum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper wegge- dacht werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegeben- heiten geschehn; dergestalt, daſs dieser Raum und diese Zeit die nothwendigen Voraussetzungen der Sinnenwelt selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung des Etwas. Gewiſs die seltsamste und ungereimteste al- ler Täuschungen!
In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit, daſs Körper da seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit, daſs Begebenheiten geschehen. Diese Möglichkeiten las- sen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal wirk- liche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehn- tes und Begränztes aufgefaſst, und nachdem einmal wirkliche Begebenheiten als dauernd eine bestimmte Zeit, und als solche, die gerade nicht früher eintraten und nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade dasselbe gilt von allem, was sich jemals in der Wirklich- keit vorgefunden hat. Man denke einmal alle wirklichen Töne und Laute, alles Hörbare hinweg! Das kann man; aber die Möglichkeit, daſs Töne gehört werden könnten, kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Re- geln der Musik gerade so unwandelbar stehn, wie die Geometrie ohne Körperwelt. Das Verhältniſs der Ter- zen, Quinten, Octaven; die Nothwendigkeit, den Leitton nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin auf- zulösen, dies alles steht vest a priori, ob nun in diesem Augenblick wirkliche Saiten und Ohren vorhanden sind oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben hinweg; aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leug- nen; folglich auch nicht den Satz, daſs das Farbendrey- eck zwey Dimensionen, hingegen die Tonlinie nur eine Dimension habe. Nichts desto weniger beziehen sich alle diese Sätze auf vorausgesetzte Töne und Farben, die wirklich gehört und gesehen werden könnten; und eben
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den Raum und die Zeit zu Objecten seines Denkens.
Kein Wunder, daſs seine Antworten sich auf den Welt-
raum beziehn, der übrig bleibt, wenn die Körper wegge-
dacht werden; und auf die Zeit, worin die Weltbegeben-
heiten geschehn; dergestalt, daſs dieser Raum und diese
Zeit die nothwendigen Voraussetzungen der Sinnenwelt
selbst auszumachen scheinen. So wird das Leere dem
Vollen vorausgeschickt; das Nichts wird zur Bedingung
des Etwas. Gewiſs die seltsamste und ungereimteste al-
ler Täuschungen!
In der That aber ist der Raum nur die Möglichkeit,
daſs Körper da seyen, und die Zeit nur die Möglichkeit,
daſs Begebenheiten geschehen. Diese Möglichkeiten las-
sen sich nicht mehr ableugnen, nachdem einmal wirk-
liche Körper wirklich als ein Räumliches, Ausgedehn-
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wirkliche Begebenheiten als dauernd eine bestimmte Zeit,
und als solche, die gerade nicht früher eintraten und
nicht später endigten, sind vorgestellt worden. Gerade
dasselbe gilt von allem, was sich jemals in der Wirklich-
keit vorgefunden hat. Man denke einmal alle wirklichen
Töne und Laute, alles Hörbare hinweg! Das kann man;
aber die Möglichkeit, daſs Töne gehört werden könnten,
kann man nicht leugnen. Folglich bleiben auch alle Re-
geln der Musik gerade so unwandelbar stehn, wie die
Geometrie ohne Körperwelt. Das Verhältniſs der Ter-
zen, Quinten, Octaven; die Nothwendigkeit, den Leitton
nach oben, die kleine Septime aber nach unten hin auf-
zulösen, dies alles steht vest a priori, ob nun in diesem
Augenblick wirkliche Saiten und Ohren vorhanden sind
oder nicht. Desgleichen denke man alle Farben hinweg;
aber die Möglichkeit der Farben kann man nicht leug-
nen; folglich auch nicht den Satz, daſs das Farbendrey-
eck zwey Dimensionen, hingegen die Tonlinie nur eine
Dimension habe. Nichts desto weniger beziehen sich alle
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 379. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/399>, abgerufen am 22.11.2024.
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