Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie man zu sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung gegeben wird: so reproducirt sie nicht bloss die völlig gleichartigen, sondern man kann sie mit einem Lichte vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet. Denn indem die neue Vorstellung alles ihr Entgegenge- setzte zurückdrängt, was sich so eben im Bewusstseyn findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegenge- setzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es er- hebt sich also, wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht bloss die völlig gleichartige ältere Vorstellung eben dieses Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit ihm be- finden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne; daher streben sie gleichfalls empor ins Bewusstseyn; und so geht das in abnehmendem Grade auf die entfernteren Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder in einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Be- wegung; nur nicht so merklich, als ob alle diese Töne und Farben wirklich wahrgenommen würden. -- Jetzt kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk- lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das ge- schieht: so stösst diese Empfindung mehr und mehr die nicht völlig gleichartigen Vorstellungen wieder zurück; und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker, je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmol- zen, und je geneigter sie deshalb sind, alle in Gesell- schaft ins Bewusstseyn zu kommen. Vergleicht man nun die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit einem Gewölbe: so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe werde vom äussern Umfange gegen die Mitte hin mehr und mehr niedergedrückt; und endlich müsse es sich dergestalt zuspitzen, dass gerade nur die, der neuen Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung her- vorrage. So geschieht es, so oft wir einen Gegenstand bestimmt als diesen und keinen andern auffassen; denn hierin liegt offenbar ein Actus der Ausschliessung
Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie man zu sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung gegeben wird: so reproducirt sie nicht bloſs die völlig gleichartigen, sondern man kann sie mit einem Lichte vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet. Denn indem die neue Vorstellung alles ihr Entgegenge- setzte zurückdrängt, was sich so eben im Bewuſstseyn findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegenge- setzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es er- hebt sich also, wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht bloſs die völlig gleichartige ältere Vorstellung eben dieses Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit ihm be- finden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne; daher streben sie gleichfalls empor ins Bewuſstseyn; und so geht das in abnehmendem Grade auf die entfernteren Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder in einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Be- wegung; nur nicht so merklich, als ob alle diese Töne und Farben wirklich wahrgenommen würden. — Jetzt kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk- lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das ge- schieht: so stöſst diese Empfindung mehr und mehr die nicht völlig gleichartigen Vorstellungen wieder zurück; und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker, je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmol- zen, und je geneigter sie deshalb sind, alle in Gesell- schaft ins Bewuſstseyn zu kommen. Vergleicht man nun die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit einem Gewölbe: so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe werde vom äuſsern Umfange gegen die Mitte hin mehr und mehr niedergedrückt; und endlich müsse es sich dergestalt zuspitzen, daſs gerade nur die, der neuen Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung her- vorrage. So geschieht es, so oft wir einen Gegenstand bestimmt als diesen und keinen andern auffassen; denn hierin liegt offenbar ein Actus der Ausschlieſsung
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Wenn eine Vorstellung eben jetzt erzeugt, oder, wie
man zu sagen pflegt, durch die Sinne als Empfindung
gegeben wird: so reproducirt sie nicht bloſs die völlig
gleichartigen, sondern man kann sie mit einem Lichte
vergleichen, das einen Schein ringsumher verbreitet.
Denn indem die neue Vorstellung alles ihr Entgegenge-
setzte zurückdrängt, was sich so eben im Bewuſstseyn
findet, wird auch alles das, worauf dieses Entgegenge-
setzte hemmend wirkte, mehr oder weniger frey. Es er-
hebt sich also, wenn wir z. B. einen Ton hören, nicht
bloſs die völlig gleichartige ältere Vorstellung eben dieses
Tones, sondern beynahe in gleichem Falle mit ihm be-
finden sich die nächst höheren und niedrigeren Töne;
daher streben sie gleichfalls empor ins Bewuſstseyn; und
so geht das in abnehmendem Grade auf die entfernteren
Töne fort. Also kommt eine ganze Tonmasse, oder in
einem andern Beyspiele eine ganze Farbenmasse in Be-
wegung; nur nicht so merklich, als ob alle diese Töne
und Farben wirklich wahrgenommen würden. — Jetzt
kommt es aber darauf an, ob die Empfindung des wirk-
lich gehörten Tones länger anhalte. Wenn das ge-
schieht: so stöſst diese Empfindung mehr und mehr die
nicht völlig gleichartigen Vorstellungen wieder zurück;
und hiebey wird der innere Widerstreit um desto stärker,
je mehr die älteren Vorstellungen unter sich verschmol-
zen, und je geneigter sie deshalb sind, alle in Gesell-
schaft ins Bewuſstseyn zu kommen. Vergleicht man nun
die ganze aufgeregte Masse der Vorstellungen mit einem
Gewölbe: so kann man fortfahren zu sagen, das Gewölbe
werde vom äuſsern Umfange gegen die Mitte hin mehr
und mehr niedergedrückt; und endlich müsse es sich
dergestalt zuspitzen, daſs gerade nur die, der neuen
Wahrnehmung völlig gleichartige ältere Vorstellung her-
vorrage. So geschieht es, so oft wir einen Gegenstand
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/386>, abgerufen am 25.11.2024.
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