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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener
widersinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde
die wahre Philosophie in einer Kritik des Verstandes;
nämlich damit er lernen möchte, sich seiner misgebornen
Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen
nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben.

Dagegen nun findet sich, dass die Form der unver-
meidlichen Auffassung sinnlicher Erscheinungen uns ei-
nen widersprechenden Begriff aufbürden will, den glück-
licherweise der menschliche Verstand nur braucht gewahr
zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustossen:
wie denn die Alten die kräftigsten Mittel sich haben ge-
fallen lassen, um nur jene ungereimten Erscheinungen
aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen; und sie ent-
weder (wie die Eleaten) geradezu für Trug und Täu-
schung, oder (wie Platon) für Gegenstände schwanken-
der Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hie-
bey die Alten offenbar zu weit von der Erfahrung ent-
fernt haben, so müssen wir andre Wege einschlagen, um
nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu
gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien
nicht liegen können. Und dieses ist denn das Hauptge-
schäfft der allgemeinen Metaphysik. --

Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Din-
ges gesagt worden, dasselbe gilt im Wesentlichen von
dem Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen. Näm-
lich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive
Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qua-
lität des Seyenden zu erzeugen; er entsteht schon aus
der Summe derjenigen Eigenschaften, die man im gemei-
nen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben einan-
der einräumt. Das Quecksilber ist weiss und flüssig und
schwer; -- wird wohl hierin ein Widerspruch liegen?
Allerdings! sobald das Eine Ding durch eine vielfältige
Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die Frage vor:
Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht
die Antwort: das Quecksilber ist weiss und flüssig und

Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener
widersinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde
die wahre Philosophie in einer Kritik des Verstandes;
nämlich damit er lernen möchte, sich seiner misgebornen
Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen
nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben.

Dagegen nun findet sich, daſs die Form der unver-
meidlichen Auffassung sinnlicher Erscheinungen uns ei-
nen widersprechenden Begriff aufbürden will, den glück-
licherweise der menschliche Verstand nur braucht gewahr
zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustoſsen:
wie denn die Alten die kräftigsten Mittel sich haben ge-
fallen lassen, um nur jene ungereimten Erscheinungen
aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen; und sie ent-
weder (wie die Eleaten) geradezu für Trug und Täu-
schung, oder (wie Platon) für Gegenstände schwanken-
der Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hie-
bey die Alten offenbar zu weit von der Erfahrung ent-
fernt haben, so müssen wir andre Wege einschlagen, um
nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu
gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien
nicht liegen können. Und dieses ist denn das Hauptge-
schäfft der allgemeinen Metaphysik. —

Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Din-
ges gesagt worden, dasselbe gilt im Wesentlichen von
dem Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen. Näm-
lich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive
Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qua-
lität des Seyenden zu erzeugen; er entsteht schon aus
der Summe derjenigen Eigenschaften, die man im gemei-
nen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben einan-
der einräumt. Das Quecksilber ist weiſs und flüssig und
schwer; — wird wohl hierin ein Widerspruch liegen?
Allerdings! sobald das Eine Ding durch eine vielfältige
Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die Frage vor:
Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht
die Antwort: das Quecksilber ist weiſs und flüssig und

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[122/0142] Wäre wirklich unser Verstand von Natur mit jener widersinnigen Kategorie behaftet: alsdann eben bestünde die wahre Philosophie in einer Kritik des Verstandes; nämlich damit er lernen möchte, sich seiner misgebornen Natur zu schämen, und, falls er nach andern Formen nicht denken könnte, das Denken lieber gar aufzugeben. Dagegen nun findet sich, daſs die Form der unver- meidlichen Auffassung sinnlicher Erscheinungen uns ei- nen widersprechenden Begriff aufbürden will, den glück- licherweise der menschliche Verstand nur braucht gewahr zu werden, um ihn zu verabscheuen und auszustoſsen: wie denn die Alten die kräftigsten Mittel sich haben ge- fallen lassen, um nur jene ungereimten Erscheinungen aus dem Gebiet des Wissens zu verbannen; und sie ent- weder (wie die Eleaten) geradezu für Trug und Täu- schung, oder (wie Platon) für Gegenstände schwanken- der Meinungen erklären zu können. Weil sich nun hie- bey die Alten offenbar zu weit von der Erfahrung ent- fernt haben, so müssen wir andre Wege einschlagen, um nämlich für die Erfahrung andre und bessere Begriffe zu gewinnen, die in dem Kreise der erwähnten Kategorien nicht liegen können. Und dieses ist denn das Hauptge- schäfft der allgemeinen Metaphysik. — Was hier von dem Begriffe des veränderlichen Din- ges gesagt worden, dasselbe gilt im Wesentlichen von dem Begriffe des Dinges mit mehrern Merkmalen. Näm- lich es brauchen nicht entgegengesetzte, noch successive Merkmale zu seyn, um jenen Widerspruch in der Qua- lität des Seyenden zu erzeugen; er entsteht schon aus der Summe derjenigen Eigenschaften, die man im gemei- nen Leben einem Dinge ganz unbedenklich neben einan- der einräumt. Das Quecksilber ist weiſs und flüssig und schwer; — wird wohl hierin ein Widerspruch liegen? Allerdings! sobald das Eine Ding durch eine vielfältige Qualität bezeichnet wird. Man lege sich die Frage vor: Was ist das Quecksilber? Diese Frage verträgt nicht die Antwort: das Quecksilber ist weiſs und flüssig und

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/142>, abgerufen am 27.04.2024.