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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart
klingen für wahrheitliebende Männer; und es
kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, wel-
ches so viele Jahre lang Zeuge war vom endlo-
sen Streite der Schulen; vielmehr wird man
hieraus längst geschlossen haben, dass es allen
Partheyen an den entscheidenden Gründen fehlte.
Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der
Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker strei-
ten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet
dergestalt alle Willkühr, dass der Versuch jeder
Widerrede aufhören muss. Die Philosophie wird
nicht alles berechnen können, aber sie wird grosse
Schritte thun können, damit sich in ihr das
Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn
der Streit der Schulen fortdauert, so wird er
sich doch mässigen, und nicht mehr, wie jetzt,
zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch
weit grösseres Uebel ist, als selbst der lauteste
Streit, so lange er mit der Aussicht auf künftige
Vereinigung geführt wird.

Hiemit sind meine Ansichten und Gesin-
nungen hinreichend angedeutet; besonders wenn
man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der
heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich
zu reden ich mich dringend veranlasst finden
könnte, -- hier verschweige, und selbst im Buche
nur selten berührt habe; weil ich lieber will, dass
die Knoten sich allmählig lüften und lösen, als
dass sie durch eine heftige Behandlung sich noch
mehr zusammenziehn. Aussprechen muss ich je-
doch, dass während eines vollen Viertel-Jahr-
hunderts ankämpfend wider Wind und Strom,
ich nur mit äusserster Anstrengung meine Rich-
tung habe behaupten können, und dass ohne die
Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte unter-
liegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir
ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte,
beruht mein Anspruch auf nachsichtige Beurthei-

Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart
klingen für wahrheitliebende Männer; und es
kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, wel-
ches so viele Jahre lang Zeuge war vom endlo-
sen Streite der Schulen; vielmehr wird man
hieraus längst geschlossen haben, daſs es allen
Partheyen an den entscheidenden Gründen fehlte.
Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der
Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker strei-
ten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet
dergestalt alle Willkühr, daſs der Versuch jeder
Widerrede aufhören muſs. Die Philosophie wird
nicht alles berechnen können, aber sie wird groſse
Schritte thun können, damit sich in ihr das
Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn
der Streit der Schulen fortdauert, so wird er
sich doch mäſsigen, und nicht mehr, wie jetzt,
zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch
weit gröſseres Uebel ist, als selbst der lauteste
Streit, so lange er mit der Aussicht auf künftige
Vereinigung geführt wird.

Hiemit sind meine Ansichten und Gesin-
nungen hinreichend angedeutet; besonders wenn
man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der
heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich
zu reden ich mich dringend veranlaſst finden
könnte, — hier verschweige, und selbst im Buche
nur selten berührt habe; weil ich lieber will, daſs
die Knoten sich allmählig lüften und lösen, als
daſs sie durch eine heftige Behandlung sich noch
mehr zusammenziehn. Aussprechen muſs ich je-
doch, daſs während eines vollen Viertel-Jahr-
hunderts ankämpfend wider Wind und Strom,
ich nur mit äuſserster Anstrengung meine Rich-
tung habe behaupten können, und daſs ohne die
Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte unter-
liegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir
ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte,
beruht mein Anspruch auf nachsichtige Beurthei-

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[VII/0013] Was ich hier gesagt habe, kann nicht hart klingen für wahrheitliebende Männer; und es kann dem Publicum nicht unerwartet seyn, wel- ches so viele Jahre lang Zeuge war vom endlo- sen Streite der Schulen; vielmehr wird man hieraus längst geschlossen haben, daſs es allen Partheyen an den entscheidenden Gründen fehlte. Und gerade dieser Umstand ist der Ursprung der Partheylichkeit. Wenn die Mathematiker strei- ten, so rechnen sie; und die Rechnung bindet dergestalt alle Willkühr, daſs der Versuch jeder Widerrede aufhören muſs. Die Philosophie wird nicht alles berechnen können, aber sie wird groſse Schritte thun können, damit sich in ihr das Gewisse vom Ungewissen sondere; und wenn der Streit der Schulen fortdauert, so wird er sich doch mäſsigen, und nicht mehr, wie jetzt, zu unheilbarem Zwiespalt führen, der ein noch weit gröſseres Uebel ist, als selbst der lauteste Streit, so lange er mit der Aussicht auf künftige Vereinigung geführt wird. Hiemit sind meine Ansichten und Gesin- nungen hinreichend angedeutet; besonders wenn man das hinzudenkt, was ich in Ansehung der heutigen Schulen, worüber ernst und ausführlich zu reden ich mich dringend veranlaſst finden könnte, — hier verschweige, und selbst im Buche nur selten berührt habe; weil ich lieber will, daſs die Knoten sich allmählig lüften und lösen, als daſs sie durch eine heftige Behandlung sich noch mehr zusammenziehn. Aussprechen muſs ich je- doch, daſs während eines vollen Viertel-Jahr- hunderts ankämpfend wider Wind und Strom, ich nur mit äuſserster Anstrengung meine Rich- tung habe behaupten können, und daſs ohne die Stütze der Mathematik ich sicherlich hätte unter- liegen müssen. Auf den Schwierigkeiten, die mir ein widerwärtiges Zeitalter in den Weg legte, beruht mein Anspruch auf nachsichtige Beurthei-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. VII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/13>, abgerufen am 29.03.2024.