Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

Bild:
<< vorherige Seite

wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich,
aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er an-
ders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Er-
schleichungen Platz, welche man sonst an das Bewusst-
seyn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über
sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit be-
schaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von ei-
nem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner
selbst sich bewusst ist er dennoch.

Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des
Selbstbewusstseyns herausgehoben aus der Befangenheit in
den Objecten ihres Vorstellens. Denn die Prädicate zwar,
welche sie in den erwähnten Zuständen sich selbst bey-
legen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie
dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt voraus-
gesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig,
ich bin fröhlich, sind insgesammt synthetisch, denn ihre
Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend
dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin
klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigen-
schaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie
stützen sich auf eine Reihe von Erfahrungen und Selbst-
beobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch In-
duction abgezogen ist. Dem gemäss liegt die Ichheit
nicht in den Auffassungen des objectiven, wie sie denn
auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet
einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich beygelegten
Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung
noch von ihnen zu unterscheiden ist.

Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewiss
nicht in dem Vorstellen des fremden objectiven begriffen
sind; und wir doch gleichwohl aus diesem nämlichen Vor-
stellen des fremden objectiven, und durch dasselbe, ha-
ben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in die-
sem objectiven der Grund liegen, weshalb wir aus dem
Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vor-
gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit muss von sol-

wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich,
aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er an-
ders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Er-
schleichungen Platz, welche man sonst an das Bewuſst-
seyn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über
sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit be-
schaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von ei-
nem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner
selbst sich bewuſst ist er dennoch.

Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des
Selbstbewuſstseyns herausgehoben aus der Befangenheit in
den Objecten ihres Vorstellens. Denn die Prädicate zwar,
welche sie in den erwähnten Zuständen sich selbst bey-
legen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie
dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt voraus-
gesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig,
ich bin fröhlich, sind insgesammt synthetisch, denn ihre
Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend
dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin
klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigen-
schaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie
stützen sich auf eine Reihe von Erfahrungen und Selbst-
beobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch In-
duction abgezogen ist. Dem gemäſs liegt die Ichheit
nicht in den Auffassungen des objectiven, wie sie denn
auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet
einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich beygelegten
Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung
noch von ihnen zu unterscheiden ist.

Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewiſs
nicht in dem Vorstellen des fremden objectiven begriffen
sind; und wir doch gleichwohl aus diesem nämlichen Vor-
stellen des fremden objectiven, und durch dasselbe, ha-
ben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in die-
sem objectiven der Grund liegen, weshalb wir aus dem
Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vor-
gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit muſs von sol-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0127" n="107"/>
wer an sich selbst verzweifelt: der <hi rendition="#g">findet</hi> allerdings Sich,<lb/>
aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er an-<lb/>
ders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Er-<lb/>
schleichungen Platz, welche man sonst an das Bewu&#x017F;st-<lb/>
seyn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über<lb/>
sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit be-<lb/>
schaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von ei-<lb/>
nem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner<lb/>
selbst sich bewu&#x017F;st ist er dennoch.</p><lb/>
              <p>Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des<lb/>
Selbstbewu&#x017F;stseyns herausgehoben aus der Befangenheit in<lb/>
den Objecten ihres Vorstellens. Denn die Prädicate zwar,<lb/>
welche sie in den erwähnten Zuständen sich selbst bey-<lb/>
legen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie<lb/>
dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt voraus-<lb/>
gesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig,<lb/>
ich bin fröhlich, sind insgesammt synthetisch, denn ihre<lb/>
Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend<lb/>
dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin<lb/>
klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigen-<lb/>
schaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie<lb/>
stützen sich auf eine Reihe von Erfahrungen und Selbst-<lb/>
beobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch In-<lb/>
duction abgezogen ist. Dem gemä&#x017F;s liegt die Ichheit<lb/>
nicht in den Auffassungen des objectiven, wie sie denn<lb/>
auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet<lb/>
einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich beygelegten<lb/>
Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung<lb/>
noch von ihnen zu unterscheiden ist.</p><lb/>
              <p>Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewi&#x017F;s<lb/>
nicht in dem Vorstellen des fremden objectiven begriffen<lb/>
sind; und wir doch gleichwohl aus diesem nämlichen Vor-<lb/>
stellen des fremden objectiven, und durch dasselbe, ha-<lb/>
ben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in die-<lb/>
sem objectiven der Grund liegen, weshalb wir aus dem<lb/>
Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vor-<lb/>
gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit mu&#x017F;s von sol-<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[107/0127] wer an sich selbst verzweifelt: der findet allerdings Sich, aber so wie er nicht will, und nicht würde, wenn er an- ders könnte. Hier ist also auch nicht einmal für die Er- schleichungen Platz, welche man sonst an das Bewuſst- seyn des Wollens anzuheften pflegt. Wer sich über sich selbst wundert, wer sich mit Selbstgefälligkeit be- schaut, der ist wo möglich noch weiter als jene von ei- nem Zustande des freyen Wollens entfernt, aber seiner selbst sich bewuſst ist er dennoch. Alle Jene aber befinden sich gleichwohl vermöge des Selbstbewuſstseyns herausgehoben aus der Befangenheit in den Objecten ihres Vorstellens. Denn die Prädicate zwar, welche sie in den erwähnten Zuständen sich selbst bey- legen, sind etwas objectives; aber das Subject, dem sie dieselben beylegen, wird dabey als schon bekannt voraus- gesetzt. Die Urtheile: ich bin beschämt, ich bin traurig, ich bin fröhlich, sind insgesammt synthetisch, denn ihre Prädicate werden keinesweges angesehen als inhärirend dem Subjecte. Und selbst solche Urtheile, wie: ich bin klug, ich bin ein Thor, welche eine beständige Eigen- schaft bezeichnen, sind dennoch synthetisch, denn sie stützen sich auf eine Reihe von Erfahrungen und Selbst- beobachtungen, aus denen ihr Prädicat erst durch In- duction abgezogen ist. Dem gemäſs liegt die Ichheit nicht in den Auffassungen des objectiven, wie sie denn auch ihrem Begriffe nach nicht kann; sondern sie bildet einen Gegensatz selbst gegen die, dem Ich beygelegten Prädicate, vermöge deren sie mitten in der Verknüpfung noch von ihnen zu unterscheiden ist. Da wir nun, so fern wir uns selbst vorstellen, gewiſs nicht in dem Vorstellen des fremden objectiven begriffen sind; und wir doch gleichwohl aus diesem nämlichen Vor- stellen des fremden objectiven, und durch dasselbe, ha- ben zu uns selbst kommen müssen: so kann nur in die- sem objectiven der Grund liegen, weshalb wir aus dem Vorstellen desselben herausgehoben werden. Das Vor- gestellte selbst in seiner Mannigfaltigkeit muſs von sol-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/127
Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/127>, abgerufen am 28.04.2024.