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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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1) Das Ich erscheint als ein im Bewusstseyn Gege-
benes, und der Begriff dieses Gegebenen wird für den
vollständigen Ausdruck desselben gehalten. Aber es fehlt
ihm sowohl am Objecte, als am Subjecte, mithin an sei-
ner ganzen Materie.

2) Die vorgegebene Identität des Objects und Sub-
jects widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatze zwi-
schen beyden; mithin ist der Begriff der Form nach un-
gereimt.

Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum
zwiefach; es muss sowohl der Mangel des Objects, als
des Subjects nachgewiesen werden.

Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des
Selbstbewusstseyns? Die Antwort muss in dem Satze lie-
gen: das Ich stellt Sich vor. Dieses Sich ist das Ich
selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so verwan-
delt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor
das Sich vorstellende. Für den Ausdruck Sich
wiederhohle man dieselbe Substitution, so kommt heraus:
das Ich stellt vor das, was vorstellt das Sich vor-
stellende
. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem
zurück; es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe
ergiebt den Satz: das Ich stellt vor das, was vorstellt
das Vorstellende des Sich-Vorstellens
. Erneuert
man die Frage, was dieses Sich bedeute? Wer denn
am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wie-
derum keine andere Antwort erfolgen, als durch die Auf-
lösung des Sich in sein Ich, und des Ich in das Sich
vorstellen
. Dieser Cirkel wird ins Unendliche fort
durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Ob-
jects in der Vorstellung Ich. -- Der Genauigkeit wegen
kann man noch bemerken, dass in den nachgewiesenen
Umwandlungen des ersten Satzes eine Bestimmung aus-
gelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich dass
das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich,
mithin nicht bloss das Sich vorstellende, sondern sein
eignes
Sich-Vorstellen zum Gegenstande hat. Allein

1) Das Ich erscheint als ein im Bewuſstseyn Gege-
benes, und der Begriff dieses Gegebenen wird für den
vollständigen Ausdruck desselben gehalten. Aber es fehlt
ihm sowohl am Objecte, als am Subjecte, mithin an sei-
ner ganzen Materie.

2) Die vorgegebene Identität des Objects und Sub-
jects widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatze zwi-
schen beyden; mithin ist der Begriff der Form nach un-
gereimt.

Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum
zwiefach; es muſs sowohl der Mangel des Objects, als
des Subjects nachgewiesen werden.

Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des
Selbstbewuſstseyns? Die Antwort muſs in dem Satze lie-
gen: das Ich stellt Sich vor. Dieses Sich ist das Ich
selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so verwan-
delt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor
das Sich vorstellende. Für den Ausdruck Sich
wiederhohle man dieselbe Substitution, so kommt heraus:
das Ich stellt vor das, was vorstellt das Sich vor-
stellende
. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem
zurück; es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe
ergiebt den Satz: das Ich stellt vor das, was vorstellt
das Vorstellende des Sich-Vorstellens
. Erneuert
man die Frage, was dieses Sich bedeute? Wer denn
am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wie-
derum keine andere Antwort erfolgen, als durch die Auf-
lösung des Sich in sein Ich, und des Ich in das Sich
vorstellen
. Dieser Cirkel wird ins Unendliche fort
durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Ob-
jects in der Vorstellung Ich. — Der Genauigkeit wegen
kann man noch bemerken, daſs in den nachgewiesenen
Umwandlungen des ersten Satzes eine Bestimmung aus-
gelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich daſs
das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich,
mithin nicht bloſs das Sich vorstellende, sondern sein
eignes
Sich-Vorstellen zum Gegenstande hat. Allein

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[94/0114] 1) Das Ich erscheint als ein im Bewuſstseyn Gege- benes, und der Begriff dieses Gegebenen wird für den vollständigen Ausdruck desselben gehalten. Aber es fehlt ihm sowohl am Objecte, als am Subjecte, mithin an sei- ner ganzen Materie. 2) Die vorgegebene Identität des Objects und Sub- jects widerstreitet dem unvermeidlichen Gegensatze zwi- schen beyden; mithin ist der Begriff der Form nach un- gereimt. Die Erläuterung des ersten Punctes zerfällt wiederum zwiefach; es muſs sowohl der Mangel des Objects, als des Subjects nachgewiesen werden. Zuvörderst: Wer, oder Was ist das Object des Selbstbewuſstseyns? Die Antwort muſs in dem Satze lie- gen: das Ich stellt Sich vor. Dieses Sich ist das Ich selbst. Man substituire den Begriff des Ich, so verwan- delt sich der erste Satz in folgenden: das Ich stellt vor das Sich vorstellende. Für den Ausdruck Sich wiederhohle man dieselbe Substitution, so kommt heraus: das Ich stellt vor das, was vorstellt das Sich vor- stellende. Hier kehrt der Ausdruck Sich von neuem zurück; es bedarf der nämlichen Substitution. Dieselbe ergiebt den Satz: das Ich stellt vor das, was vorstellt das Vorstellende des Sich-Vorstellens. Erneuert man die Frage, was dieses Sich bedeute? Wer denn am Ende eigentlich der Vorgestellte sey? so kann wie- derum keine andere Antwort erfolgen, als durch die Auf- lösung des Sich in sein Ich, und des Ich in das Sich vorstellen. Dieser Cirkel wird ins Unendliche fort durchlaufen werden, ohne Angabe des eigentlichen Ob- jects in der Vorstellung Ich. — Der Genauigkeit wegen kann man noch bemerken, daſs in den nachgewiesenen Umwandlungen des ersten Satzes eine Bestimmung aus- gelassen ist, die hier nichts zur Sache thut; nämlich daſs das Ich nicht überhaupt irgend ein Ich, sondern Sich, mithin nicht bloſs das Sich vorstellende, sondern sein eignes Sich-Vorstellen zum Gegenstande hat. Allein

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/114>, abgerufen am 27.04.2024.