schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der ganzen früheren Lebenszeit; und auf solche Weise bilde sich das Selbstbewusstseyn derer, die in Pecking, und die am Orinoko, wie deren, die bey uns leben. Wolle man fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort ge- boren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze voraus, dass eben derselbe Ich, welcher bey uns dieser bestimmte Mensch geworden ist, auch ein ganz Ande- rer hätte werden können, und dass der Andere und Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der Persönlichkeit an gar Nichts vestgehalten werden, wofern die Bedingungen einer bestimmten Persönlichkeit mit an- dern vertauscht gedacht würden. Sogar die Meinung, dass die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen einen verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis erlange, könne zugelassen werden, ohne darum das Selbst- bewusstseyn in dem einen Gedankenkreise und das in ei- nem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn die Seele sey weder das Subject noch das Object des Selbstbewusstseyns, da sie im Bewusstseyn gar nicht vor- komme. Sonach möge immerhin von der Seele gesagt wer- den, dass die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey, bey- nahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele, dem Selbstbewusstseyn das unbewusste Substrat; daher dürfe man die innere Wahrnehmung nicht verlas- sen, als welche allein einen Jeden lehren könne, wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus dem früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug lehre.
Wir haben hier zwey verschiedene Ansichten ein- ander gegenüber gestellt, deren jede wir noch genauer prüfen müssen, und zwar -- welches wohl zu merken, -- hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern, welche jetzo zunächst müsse vestgehalten werden, um von dem Gegebenen in unserm Nachdenken auszu- gehn, ohne einen Sprung zu machen.
schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der ganzen früheren Lebenszeit; und auf solche Weise bilde sich das Selbstbewuſstseyn derer, die in Pecking, und die am Orinoko, wie deren, die bey uns leben. Wolle man fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort ge- boren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze voraus, daſs eben derselbe Ich, welcher bey uns dieser bestimmte Mensch geworden ist, auch ein ganz Ande- rer hätte werden können, und daſs der Andere und Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der Persönlichkeit an gar Nichts vestgehalten werden, wofern die Bedingungen einer bestimmten Persönlichkeit mit an- dern vertauscht gedacht würden. Sogar die Meinung, daſs die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen einen verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis erlange, könne zugelassen werden, ohne darum das Selbst- bewuſstseyn in dem einen Gedankenkreise und das in ei- nem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn die Seele sey weder das Subject noch das Object des Selbstbewuſstseyns, da sie im Bewuſstseyn gar nicht vor- komme. Sonach möge immerhin von der Seele gesagt wer- den, daſs die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey, bey- nahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele, dem Selbstbewuſstseyn das unbewuſste Substrat; daher dürfe man die innere Wahrnehmung nicht verlas- sen, als welche allein einen Jeden lehren könne, wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus dem früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug lehre.
Wir haben hier zwey verschiedene Ansichten ein- ander gegenüber gestellt, deren jede wir noch genauer prüfen müssen, und zwar — welches wohl zu merken, — hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern, welche jetzo zunächst müsse vestgehalten werden, um von dem Gegebenen in unserm Nachdenken auszu- gehn, ohne einen Sprung zu machen.
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schöpf zwar nicht des Augenblicks sey, wohl aber der
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fragen, wer würde ich seyn, wenn ich da oder dort ge-
boren wäre? so sey dieses widersinnig, denn es setze
voraus, daſs eben derselbe Ich, welcher bey uns dieser
bestimmte Mensch geworden ist, auch ein ganz Ande-
rer hätte werden können, und daſs der Andere und
Ich einerley seyen. Vielmehr könne die Identität der
Persönlichkeit an gar Nichts vestgehalten werden, wofern
die Bedingungen einer bestimmten Persönlichkeit mit an-
dern vertauscht gedacht würden. Sogar die Meinung,
daſs die nämliche Seele unter verschiedenen Umständen
einen verschiedenen Gedanken- und Begehrungs-Kreis
erlange, könne zugelassen werden, ohne darum das Selbst-
bewuſstseyn in dem einen Gedankenkreise und das in ei-
nem andern dem nämlichen Subject zuzuschreiben; denn
die Seele sey weder das Subject noch das Object des
Selbstbewuſstseyns, da sie im Bewuſstseyn gar nicht vor-
komme. Sonach möge immerhin von der Seele gesagt wer-
den, daſs die ihr angebildete Ichheit ihr zufällig sey, bey-
nahe eben so zufällig aber sey auch der Ichheit die Seele,
dem Selbstbewuſstseyn das unbewuſste Substrat; daher
dürfe man die innere Wahrnehmung nicht verlas-
sen, als welche allein einen Jeden lehren könne,
wer er sey; und welche mit Hülfe der Erinnerung aus
dem früheren Leben ihn dieses auch bestimmt genug
lehre.
Wir haben hier zwey verschiedene Ansichten ein-
ander gegenüber gestellt, deren jede wir noch genauer
prüfen müssen, und zwar — welches wohl zu merken, —
hier noch nicht in der Absicht, zu entscheiden, welche
von beyden der Wahrheit am nächsten komme, sondern,
welche jetzo zunächst müsse vestgehalten werden, um
von dem Gegebenen in unserm Nachdenken auszu-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/107>, abgerufen am 21.11.2024.
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