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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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Finden wir denn jemals im Selbstbewusstseyn Uns
Selbst bloss und lediglich als ein solches Wissen von
Sich? Keineswegs. Immer schiebt sich irgend eine in-
dividuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend, wol-
lend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Bezie-
hung auf das, was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, ge-
litten, gehandelt wird. Ist nun diese individuelle Be-
stimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es verfälscht,
verunreinigt wird?

Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu be-
jahen. Zuvörderst: in der obigen Erklärung des Ich, es
sey Identität des Objects und Subjects, kommt gar keine
individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen Le-
ben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun
oder leiden, als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick,
in welchem wir uns also finden, ist nur ein Durchgang,
aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeutender Le-
bens-Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen
könnten, so wie wir in ihn hineinbrachten, was in frühe-
ren Lebenslagen stark auf uns wirkte. Aber in der Zeit,
und durch die Zeit, konnten wir anders gebildet oder
verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Perso-
nen geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze
Zwischenraum zwischen Geburt und Tod, mit Allem,
was er aus Uns macht, überall nicht die entscheidende
Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn ei-
gentlich? Und das heisst denn eben so viel, als: in der
zeitlichen Wahrnehmung kann ich überhaupt
nicht Mich finden, als denjenigen, der ich ei-
gentlich bin
. Diese Wahrnehmung, obschon eine in-
nere
, hängt doch an lauter Aeusserlichkeiten; und kann
daher bis zu dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst
nicht durchdringen.

Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey
lediglich von dem Ich, wie es als ein Gegebenes ge-
funden werde; man könne nicht leugnen, dass man je-
derzeit sich selbst als denjenigen erblicke, der ein Ge-

Finden wir denn jemals im Selbstbewuſstseyn Uns
Selbst bloſs und lediglich als ein solches Wissen von
Sich? Keineswegs. Immer schiebt sich irgend eine in-
dividuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend, wol-
lend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Bezie-
hung auf das, was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, ge-
litten, gehandelt wird. Ist nun diese individuelle Be-
stimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es verfälscht,
verunreinigt wird?

Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu be-
jahen. Zuvörderst: in der obigen Erklärung des Ich, es
sey Identität des Objects und Subjects, kommt gar keine
individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen Le-
ben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun
oder leiden, als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick,
in welchem wir uns also finden, ist nur ein Durchgang,
aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeutender Le-
bens-Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen
könnten, so wie wir in ihn hineinbrachten, was in frühe-
ren Lebenslagen stark auf uns wirkte. Aber in der Zeit,
und durch die Zeit, konnten wir anders gebildet oder
verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Perso-
nen geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze
Zwischenraum zwischen Geburt und Tod, mit Allem,
was er aus Uns macht, überall nicht die entscheidende
Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn ei-
gentlich? Und das heiſst denn eben so viel, als: in der
zeitlichen Wahrnehmung kann ich überhaupt
nicht Mich finden, als denjenigen, der ich ei-
gentlich bin
. Diese Wahrnehmung, obschon eine in-
nere
, hängt doch an lauter Aeuſserlichkeiten; und kann
daher bis zu dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst
nicht durchdringen.

Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey
lediglich von dem Ich, wie es als ein Gegebenes ge-
funden werde; man könne nicht leugnen, daſs man je-
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[86/0106] Finden wir denn jemals im Selbstbewuſstseyn Uns Selbst bloſs und lediglich als ein solches Wissen von Sich? Keineswegs. Immer schiebt sich irgend eine in- dividuelle Bestimmung ein; man findet sich denkend, wol- lend, fühlend, leidend, handelnd; mit bestimmter Bezie- hung auf das, was so eben gedacht, gewollt, gefühlt, ge- litten, gehandelt wird. Ist nun diese individuelle Be- stimmung etwas Fremdes im Ich, wodurch es verfälscht, verunreinigt wird? Man kann wohl Gründe finden, diese Frage zu be- jahen. Zuvörderst: in der obigen Erklärung des Ich, es sey Identität des Objects und Subjects, kommt gar keine individuelle Bestimmung vor. Ferner: im gemeinen Le- ben selbst betrachten wir das, was wir eben jetzo thun oder leiden, als etwas Uns Zufälliges. Der Augenblick, in welchem wir uns also finden, ist nur ein Durchgang, aus welchem wir höchstens, wenn es ein bedeutender Le- bens-Moment wäre, einen bleibenden Eindruck mitnehmen könnten, so wie wir in ihn hineinbrachten, was in frühe- ren Lebenslagen stark auf uns wirkte. Aber in der Zeit, und durch die Zeit, konnten wir anders gebildet oder verbildet werden; gleichwohl wären wir dieselben Perso- nen geblieben, die wir jetzt sind. Daher kann der ganze Zwischenraum zwischen Geburt und Tod, mit Allem, was er aus Uns macht, überall nicht die entscheidende Antwort auf die Frage geben: Wer bin ich denn ei- gentlich? Und das heiſst denn eben so viel, als: in der zeitlichen Wahrnehmung kann ich überhaupt nicht Mich finden, als denjenigen, der ich ei- gentlich bin. Diese Wahrnehmung, obschon eine in- nere, hängt doch an lauter Aeuſserlichkeiten; und kann daher bis zu dem wahren Kern unseres eigentlichen Selbst nicht durchdringen. Allein es möchte Jemand einwenden, die Frage sey lediglich von dem Ich, wie es als ein Gegebenes ge- funden werde; man könne nicht leugnen, daſs man je- derzeit sich selbst als denjenigen erblicke, der ein Ge-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/106>, abgerufen am 28.04.2024.