Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787.

Bild:
<< vorherige Seite

eben an einem Briefe. Wie ich ihn aber so er-
scheinen sah: fiel mir die Feder aus der Hand,
und ich sprang auf: "was gibts, was hast du?"

"Mein Argwohn war nur zu gut gegründet,
höre!" sprach er, und ging mit mir zum äußer-
sten Ende von der Thür weg.

"Du kennst den schönen einsamen Platz,
wo die großen babylonischen Weiden vom hohen
Felsengestad herunter nach dem See hangen, und
das Ganze zu einer stillen melancholischen Ver-
tiefung sich einschließt: dahin war die letzte Zeit
immer mein liebster Spaziergang; schon vorher
sind wir dort beysammen gewesen. Auch diesen
Abend ging ich dahin, und nahm einmal ein In-
strument mit. Es fing an zu dämmern, als
ich noch auf der entblößten Wurzel der vordersten
Weide nach dem Thale zu saß, und meine Lei-
den sang. Der Inhalt von meinem Liede war:
Ach, mein Vater todt, meine Mutter todt, mei-
nes Lebens Lust in fremder Gewalt! ist dieß nicht

ein
J 4

eben an einem Briefe. Wie ich ihn aber ſo er-
ſcheinen ſah: fiel mir die Feder aus der Hand,
und ich ſprang auf: „was gibts, was haſt du?“

„Mein Argwohn war nur zu gut gegruͤndet,
hoͤre!“ ſprach er, und ging mit mir zum aͤußer-
ſten Ende von der Thuͤr weg.

„Du kennſt den ſchoͤnen einſamen Platz,
wo die großen babyloniſchen Weiden vom hohen
Felſengeſtad herunter nach dem See hangen, und
das Ganze zu einer ſtillen melancholiſchen Ver-
tiefung ſich einſchließt: dahin war die letzte Zeit
immer mein liebſter Spaziergang; ſchon vorher
ſind wir dort beyſammen geweſen. Auch dieſen
Abend ging ich dahin, und nahm einmal ein In-
ſtrument mit. Es fing an zu daͤmmern, als
ich noch auf der entbloͤßten Wurzel der vorderſten
Weide nach dem Thale zu ſaß, und meine Lei-
den ſang. Der Inhalt von meinem Liede war:
Ach, mein Vater todt, meine Mutter todt, mei-
nes Lebens Luſt in fremder Gewalt! iſt dieß nicht

ein
J 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0141" n="135"/>
eben an einem Briefe. Wie ich ihn aber &#x017F;o er-<lb/>
&#x017F;cheinen &#x017F;ah: fiel mir die Feder aus der Hand,<lb/>
und ich &#x017F;prang auf: &#x201E;was gibts, was ha&#x017F;t du?&#x201C;</p><lb/>
        <p>&#x201E;Mein Argwohn war nur zu gut gegru&#x0364;ndet,<lb/>
ho&#x0364;re!&#x201C; &#x017F;prach er, und ging mit mir zum a&#x0364;ußer-<lb/>
&#x017F;ten Ende von der Thu&#x0364;r weg.</p><lb/>
        <p>&#x201E;Du kenn&#x017F;t den &#x017F;cho&#x0364;nen ein&#x017F;amen Platz,<lb/>
wo die großen babyloni&#x017F;chen Weiden vom hohen<lb/>
Fel&#x017F;enge&#x017F;tad herunter nach dem See hangen, und<lb/>
das Ganze zu einer &#x017F;tillen melancholi&#x017F;chen Ver-<lb/>
tiefung &#x017F;ich ein&#x017F;chließt: dahin war die letzte Zeit<lb/>
immer mein lieb&#x017F;ter Spaziergang; &#x017F;chon vorher<lb/>
&#x017F;ind wir dort bey&#x017F;ammen gewe&#x017F;en. Auch die&#x017F;en<lb/>
Abend ging ich dahin, und nahm einmal ein In-<lb/>
&#x017F;trument mit. Es fing an zu da&#x0364;mmern, als<lb/>
ich noch auf der entblo&#x0364;ßten Wurzel der vorder&#x017F;ten<lb/>
Weide nach dem Thale zu &#x017F;aß, und meine Lei-<lb/>
den &#x017F;ang. Der Inhalt von meinem Liede war:<lb/>
Ach, mein Vater todt, meine Mutter todt, mei-<lb/>
nes Lebens Lu&#x017F;t in fremder Gewalt! i&#x017F;t dieß nicht<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 4</fw><fw place="bottom" type="catch">ein</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0141] eben an einem Briefe. Wie ich ihn aber ſo er- ſcheinen ſah: fiel mir die Feder aus der Hand, und ich ſprang auf: „was gibts, was haſt du?“ „Mein Argwohn war nur zu gut gegruͤndet, hoͤre!“ ſprach er, und ging mit mir zum aͤußer- ſten Ende von der Thuͤr weg. „Du kennſt den ſchoͤnen einſamen Platz, wo die großen babyloniſchen Weiden vom hohen Felſengeſtad herunter nach dem See hangen, und das Ganze zu einer ſtillen melancholiſchen Ver- tiefung ſich einſchließt: dahin war die letzte Zeit immer mein liebſter Spaziergang; ſchon vorher ſind wir dort beyſammen geweſen. Auch dieſen Abend ging ich dahin, und nahm einmal ein In- ſtrument mit. Es fing an zu daͤmmern, als ich noch auf der entbloͤßten Wurzel der vorderſten Weide nach dem Thale zu ſaß, und meine Lei- den ſang. Der Inhalt von meinem Liede war: Ach, mein Vater todt, meine Mutter todt, mei- nes Lebens Luſt in fremder Gewalt! iſt dieß nicht ein J 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/141
Zitationshilfe: [Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/141>, abgerufen am 22.11.2024.