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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

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Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der
Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen
Göttertisch, daß die goldnen Pokale zitterten, und
die Götter verstummten und erblichen, und immer
bleicher wurden, bis sie endlich ganz in Nebel
zerrannen.

Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt
wurde grau und dunkel. Es gab keine glücklichen
Götter mehr, der Olymp wurde ein Lazareth wo
geschundene, gebratene und gespießte Götter lang¬
weilig umherschlichen, und ihre Wunden verban¬
den und triste Lieder sangen. Die Religion ge¬
währte keine Freude mehr, sondern Trost; es war
eine trübselige, blutrünstige Delinquentenreligion.

War sie vielleicht nöthig für die erkrankte und
zertretene Menschheit? Wer seinen Gott leiden
sieht, trägt leichter die eignen Schmerzen. Die
vorigen heiteren Götter, die selbst keine Schmerzen
fühlten, wußten auch nicht wie armen gequälten
Menschen zu Muthe ist, und ein armer gequälter

Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der
Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen
Goͤttertiſch, daß die goldnen Pokale zitterten, und
die Goͤtter verſtummten und erblichen, und immer
bleicher wurden, bis ſie endlich ganz in Nebel
zerrannen.

Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt
wurde grau und dunkel. Es gab keine gluͤcklichen
Goͤtter mehr, der Olymp wurde ein Lazareth wo
geſchundene, gebratene und geſpießte Goͤtter lang¬
weilig umherſchlichen, und ihre Wunden verban¬
den und triſte Lieder ſangen. Die Religion ge¬
waͤhrte keine Freude mehr, ſondern Troſt; es war
eine truͤbſelige, blutruͤnſtige Delinquentenreligion.

War ſie vielleicht noͤthig fuͤr die erkrankte und
zertretene Menſchheit? Wer ſeinen Gott leiden
ſieht, traͤgt leichter die eignen Schmerzen. Die
vorigen heiteren Goͤtter, die ſelbſt keine Schmerzen
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[43/0057] Haupte, und mit einem großen Holzkreuz auf der Schulter; und er warf das Kreuz auf den hohen Goͤttertiſch, daß die goldnen Pokale zitterten, und die Goͤtter verſtummten und erblichen, und immer bleicher wurden, bis ſie endlich ganz in Nebel zerrannen. Nun gabs eine traurige Zeit, und die Welt wurde grau und dunkel. Es gab keine gluͤcklichen Goͤtter mehr, der Olymp wurde ein Lazareth wo geſchundene, gebratene und geſpießte Goͤtter lang¬ weilig umherſchlichen, und ihre Wunden verban¬ den und triſte Lieder ſangen. Die Religion ge¬ waͤhrte keine Freude mehr, ſondern Troſt; es war eine truͤbſelige, blutruͤnſtige Delinquentenreligion. War ſie vielleicht noͤthig fuͤr die erkrankte und zertretene Menſchheit? Wer ſeinen Gott leiden ſieht, traͤgt leichter die eignen Schmerzen. Die vorigen heiteren Goͤtter, die ſelbſt keine Schmerzen fuͤhlten, wußten auch nicht wie armen gequaͤlten Menſchen zu Muthe iſt, und ein armer gequaͤlter

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/57>, abgerufen am 21.11.2024.