Denn die Menschen halten um so eifriger auf einen Titel, je zweydeutiger und ungewisser der Titulus ist, der sie dazu berechtigt. Vielleicht aber würde der Graf Platen ein Dichter seyn, wenn er in einer anderen Zeit lebte, und wenn er außerdem auch ein anderer wäre, als er jetzt ist. Der Mangel an Naturlauten in den Ge¬ dichten des Grafen rührt vielleicht daher, daß er in einer Zeit lebt, wo er seine wahren Gefühle nicht nennen darf, wo dieselbe Sitte, die seiner Liebe immer feindlich entgegensteht, ihm sogar verbietet, seine Klage darüber unverhüllt auszu¬ sprechen, wo er jede Empfindung ängstlich ver¬ kappen muß, um so wenig das Ohr des Publi¬ kums, als das eines "spröden Schönen" durch eine einzige Silbe zu erschrecken. Diese Angst läßt bey ihm keine eignen Naturlaute aufkommen, sie verdammt ihn, die Gefühle anderer Dichter, gleichsam als untadelhaften, vorgefundenen Stoff, metrisch zu bearbeiten, und nöthigenfalls zur
Denn die Menſchen halten um ſo eifriger auf einen Titel, je zweydeutiger und ungewiſſer der Titulus iſt, der ſie dazu berechtigt. Vielleicht aber wuͤrde der Graf Platen ein Dichter ſeyn, wenn er in einer anderen Zeit lebte, und wenn er außerdem auch ein anderer waͤre, als er jetzt iſt. Der Mangel an Naturlauten in den Ge¬ dichten des Grafen ruͤhrt vielleicht daher, daß er in einer Zeit lebt, wo er ſeine wahren Gefuͤhle nicht nennen darf, wo dieſelbe Sitte, die ſeiner Liebe immer feindlich entgegenſteht, ihm ſogar verbietet, ſeine Klage daruͤber unverhuͤllt auszu¬ ſprechen, wo er jede Empfindung aͤngſtlich ver¬ kappen muß, um ſo wenig das Ohr des Publi¬ kums, als das eines “ſproͤden Schoͤnen„ durch eine einzige Silbe zu erſchrecken. Dieſe Angſt laͤßt bey ihm keine eignen Naturlaute aufkommen, ſie verdammt ihn, die Gefuͤhle anderer Dichter, gleichſam als untadelhaften, vorgefundenen Stoff, metriſch zu bearbeiten, und noͤthigenfalls zur
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Denn die Menſchen halten um ſo eifriger auf
einen Titel, je zweydeutiger und ungewiſſer der
Titulus iſt, der ſie dazu berechtigt. Vielleicht
aber wuͤrde der Graf Platen ein Dichter ſeyn,
wenn er in einer anderen Zeit lebte, und wenn
er außerdem auch ein anderer waͤre, als er jetzt
iſt. Der Mangel an Naturlauten in den Ge¬
dichten des Grafen ruͤhrt vielleicht daher, daß er
in einer Zeit lebt, wo er ſeine wahren Gefuͤhle
nicht nennen darf, wo dieſelbe Sitte, die ſeiner
Liebe immer feindlich entgegenſteht, ihm ſogar
verbietet, ſeine Klage daruͤber unverhuͤllt auszu¬
ſprechen, wo er jede Empfindung aͤngſtlich ver¬
kappen muß, um ſo wenig das Ohr des Publi¬
kums, als das eines “ſproͤden Schoͤnen„ durch
eine einzige Silbe zu erſchrecken. Dieſe Angſt
laͤßt bey ihm keine eignen Naturlaute aufkommen,
ſie verdammt ihn, die Gefuͤhle anderer Dichter,
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/390>, abgerufen am 25.11.2024.
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