Die Tugend, das versteht sich von selbst, ist die erste von allen Herrlichkeiten, der Weltschöpfer schmückte sie mit so vielen Reizen, daß es schien, als ob er nichts eben so Herrliches mehr hervor¬ bringen könne; da aber nahm er noch einmal alle seine Kräfte zusammen, und in einer guten Stunde schuf er Signora Franscheska, die schöne Tänzerin, das größte Meisterstück, das er nach Erschaffung der Tugend hervorgebracht, und wo¬ bey er sich nicht im mindesten wiederholt hat, wie irdische Meister, bey deren späteren Werken die Reize der früheren wieder geborgterweise zum Vorschein kommen -- Nein, Signora Fran¬ scheska ist ganz Original, sie hat nicht die min¬ deste Aehnlichkeit mit der Tugend, und es giebt Kenner, die sie für eben so herrlich halten, und der Tugend, die früher erschaffen worden, nur den Vorrang der Anciennität zuerkennen. Aber ist das ein großer Mangel, wenn eine Tänzerin einige sechstausend Jahre zu jung ist?
Die Tugend, das verſteht ſich von ſelbſt, iſt die erſte von allen Herrlichkeiten, der Weltſchoͤpfer ſchmuͤckte ſie mit ſo vielen Reizen, daß es ſchien, als ob er nichts eben ſo Herrliches mehr hervor¬ bringen koͤnne; da aber nahm er noch einmal alle ſeine Kraͤfte zuſammen, und in einer guten Stunde ſchuf er Signora Franſcheska, die ſchoͤne Taͤnzerin, das groͤßte Meiſterſtuͤck, das er nach Erſchaffung der Tugend hervorgebracht, und wo¬ bey er ſich nicht im mindeſten wiederholt hat, wie irdiſche Meiſter, bey deren ſpaͤteren Werken die Reize der fruͤheren wieder geborgterweiſe zum Vorſchein kommen — Nein, Signora Fran¬ ſcheska iſt ganz Original, ſie hat nicht die min¬ deſte Aehnlichkeit mit der Tugend, und es giebt Kenner, die ſie fuͤr eben ſo herrlich halten, und der Tugend, die fruͤher erſchaffen worden, nur den Vorrang der Anciennitaͤt zuerkennen. Aber iſt das ein großer Mangel, wenn eine Taͤnzerin einige ſechstauſend Jahre zu jung iſt?
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Die Tugend, das verſteht ſich von ſelbſt, iſt die
erſte von allen Herrlichkeiten, der Weltſchoͤpfer
ſchmuͤckte ſie mit ſo vielen Reizen, daß es ſchien,
als ob er nichts eben ſo Herrliches mehr hervor¬
bringen koͤnne; da aber nahm er noch einmal
alle ſeine Kraͤfte zuſammen, und in einer guten
Stunde ſchuf er Signora Franſcheska, die ſchoͤne
Taͤnzerin, das groͤßte Meiſterſtuͤck, das er nach
Erſchaffung der Tugend hervorgebracht, und wo¬
bey er ſich nicht im mindeſten wiederholt hat,
wie irdiſche Meiſter, bey deren ſpaͤteren Werken
die Reize der fruͤheren wieder geborgterweiſe
zum Vorſchein kommen — Nein, Signora Fran¬
ſcheska iſt ganz Original, ſie hat nicht die min¬
deſte Aehnlichkeit mit der Tugend, und es giebt
Kenner, die ſie fuͤr eben ſo herrlich halten, und
der Tugend, die fruͤher erſchaffen worden, nur
den Vorrang der Anciennitaͤt zuerkennen. Aber
iſt das ein großer Mangel, wenn eine Taͤnzerin
einige ſechstauſend Jahre zu jung iſt?
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/277>, abgerufen am 22.11.2024.
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