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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830.

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bloß den Ort dazu her, wo sich eine Menge
Menschen, und zwar darunter viele Menschen
von Geist, versammeln, denen der Ort ganz
gleichgültig ist; diese bilden das geistige Berlin.
Der durchreisende Fremde sieht nur die langge¬
streckten, uniformen Häuser, die langen breiten
Straßen, die nach der Schnur und meistens nach
dem Eigenwillen eines Einzelnen gebaut sind, und
keine Kunde geben von der Denkweise der Menge.
Nur Sonntagskinder vermögen etwas von der
Privatgesinnung der Einwohner zu errathen,
wenn sie die langen Häuserreihen betrachten,
die sich, wie die Menschen selbst, von einander
fern zu halten streben, erstarrend im gegenseitigen
Groll. Nur einmal, in einer Mondnacht, als
ich etwas spät von Luther und Wegener heim¬
kehrte, sah ich wie jene harte Stimmung sich
in milde Wehmuth aufgelöst hatte, wie die Häu¬
ser, die einander so feindlich gegenüber gestanden,
sich gerührt baufällig christlich anblickten, und sich

bloß den Ort dazu her, wo ſich eine Menge
Menſchen, und zwar darunter viele Menſchen
von Geiſt, verſammeln, denen der Ort ganz
gleichguͤltig iſt; dieſe bilden das geiſtige Berlin.
Der durchreiſende Fremde ſieht nur die langge¬
ſtreckten, uniformen Haͤuſer, die langen breiten
Straßen, die nach der Schnur und meiſtens nach
dem Eigenwillen eines Einzelnen gebaut ſind, und
keine Kunde geben von der Denkweiſe der Menge.
Nur Sonntagskinder vermoͤgen etwas von der
Privatgeſinnung der Einwohner zu errathen,
wenn ſie die langen Haͤuſerreihen betrachten,
die ſich, wie die Menſchen ſelbſt, von einander
fern zu halten ſtreben, erſtarrend im gegenſeitigen
Groll. Nur einmal, in einer Mondnacht, als
ich etwas ſpaͤt von Luther und Wegener heim¬
kehrte, ſah ich wie jene harte Stimmung ſich
in milde Wehmuth aufgeloͤſt hatte, wie die Haͤu¬
ſer, die einander ſo feindlich gegenuͤber geſtanden,
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[12/0020] bloß den Ort dazu her, wo ſich eine Menge Menſchen, und zwar darunter viele Menſchen von Geiſt, verſammeln, denen der Ort ganz gleichguͤltig iſt; dieſe bilden das geiſtige Berlin. Der durchreiſende Fremde ſieht nur die langge¬ ſtreckten, uniformen Haͤuſer, die langen breiten Straßen, die nach der Schnur und meiſtens nach dem Eigenwillen eines Einzelnen gebaut ſind, und keine Kunde geben von der Denkweiſe der Menge. Nur Sonntagskinder vermoͤgen etwas von der Privatgeſinnung der Einwohner zu errathen, wenn ſie die langen Haͤuſerreihen betrachten, die ſich, wie die Menſchen ſelbſt, von einander fern zu halten ſtreben, erſtarrend im gegenſeitigen Groll. Nur einmal, in einer Mondnacht, als ich etwas ſpaͤt von Luther und Wegener heim¬ kehrte, ſah ich wie jene harte Stimmung ſich in milde Wehmuth aufgeloͤſt hatte, wie die Haͤu¬ ſer, die einander ſo feindlich gegenuͤber geſtanden, ſich geruͤhrt baufaͤllig chriſtlich anblickten, und ſich

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/20>, abgerufen am 24.11.2024.