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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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lich aufgeblüht sey. Sie führten mich in ihren
Garten, und da sah ich, zu meiner Verwunderung,
daß das niedrige, harte Gewächs, mit den när¬
risch breiten, scharfgezackten Blättern, woran man
sich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Höhe
geschossen war, und oben, wie eine goldne Krone,
die herrlichste Blüthe trug. Wir Kinder konnten
nicht mahl so hoch hinaufsehen, und der alte,
schmunzelnde Christian, der uns lieb hatte, baute
eine hölzerne Treppe um die Blume herum, und
da kletterten wir hinauf, wie die Katzen, und
schauten neugierig in den offnen Blumenkelch, wor¬
aus die gelben Strahlenfäden und wildfremden Düfte
mit unerhörter Pracht hervordrangen.

Ja, Agnes, oft und leicht kommt dieses Herz
nicht zum Blühen; so viel ich mich erinnere, hat
es nur ein einziges Mal geblüht, und das mag
schon lange her seyn, gewiß schon hundert Jahr.
Ich glaube, so herrlich auch damals seine Blüthe
sich entfaltete, so mußte sie doch aus Mangel an
Sonnenschein und Wärme elendiglich verkümmern,

lich aufgebluͤht ſey. Sie fuͤhrten mich in ihren
Garten, und da ſah ich, zu meiner Verwunderung,
daß das niedrige, harte Gewaͤchs, mit den naͤr¬
riſch breiten, ſcharfgezackten Blaͤttern, woran man
ſich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Hoͤhe
geſchoſſen war, und oben, wie eine goldne Krone,
die herrlichſte Bluͤthe trug. Wir Kinder konnten
nicht mahl ſo hoch hinaufſehen, und der alte,
ſchmunzelnde Chriſtian, der uns lieb hatte, baute
eine hoͤlzerne Treppe um die Blume herum, und
da kletterten wir hinauf, wie die Katzen, und
ſchauten neugierig in den offnen Blumenkelch, wor¬
aus die gelben Strahlenfaͤden und wildfremden Duͤfte
mit unerhoͤrter Pracht hervordrangen.

Ja, Agnes, oft und leicht kommt dieſes Herz
nicht zum Bluͤhen; ſo viel ich mich erinnere, hat
es nur ein einziges Mal gebluͤht, und das mag
ſchon lange her ſeyn, gewiß ſchon hundert Jahr.
Ich glaube, ſo herrlich auch damals ſeine Bluͤthe
ſich entfaltete, ſo mußte ſie doch aus Mangel an
Sonnenſchein und Waͤrme elendiglich verkuͤmmern,

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[258/0270] lich aufgebluͤht ſey. Sie fuͤhrten mich in ihren Garten, und da ſah ich, zu meiner Verwunderung, daß das niedrige, harte Gewaͤchs, mit den naͤr¬ riſch breiten, ſcharfgezackten Blaͤttern, woran man ſich leicht verletzen konnte, jetzt ganz in die Hoͤhe geſchoſſen war, und oben, wie eine goldne Krone, die herrlichſte Bluͤthe trug. Wir Kinder konnten nicht mahl ſo hoch hinaufſehen, und der alte, ſchmunzelnde Chriſtian, der uns lieb hatte, baute eine hoͤlzerne Treppe um die Blume herum, und da kletterten wir hinauf, wie die Katzen, und ſchauten neugierig in den offnen Blumenkelch, wor¬ aus die gelben Strahlenfaͤden und wildfremden Duͤfte mit unerhoͤrter Pracht hervordrangen. Ja, Agnes, oft und leicht kommt dieſes Herz nicht zum Bluͤhen; ſo viel ich mich erinnere, hat es nur ein einziges Mal gebluͤht, und das mag ſchon lange her ſeyn, gewiß ſchon hundert Jahr. Ich glaube, ſo herrlich auch damals ſeine Bluͤthe ſich entfaltete, ſo mußte ſie doch aus Mangel an Sonnenſchein und Waͤrme elendiglich verkuͤmmern,

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/270>, abgerufen am 25.08.2024.