wenn er in allmähliger Entfaltung sich in die Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht, und plötzlich in die erschrecklichsten Sprünge ausbricht. Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den Augen, und jetzt merkte er, warum Tänzer besser honorirt werden als große Dichter, warum das Ballet beym diplomatischen Corps ein unerschöpfli¬ cher Gegenstand des Gesprächs ist, und warum oft eine schöne Tänzerin noch privatim von dem Minister unterhalten wird, der sich gewiß Tag und Nacht abmüht, sie für sein politisches System¬ chen empfänglich zu machen. Bey'm Apis! wie groß ist die Zahl der exoterischen und wie klein die Zahl der esoterischen Theaterbesucher! Da steht das blöde Volk und gafft und bewundert Sprünge und Wendungen, und studiert Anatomie in den Stellungen der Lemiere, und applaudirt die Entre¬ chats der Röhnisch, und schwatzt von Grazie, Harmonie und Lenden -- und keiner merkt, daß er in getanzten Chiffern das Schicksal des deut¬ schen Vaterlandes vor Augen hat.
wenn er in allmaͤhliger Entfaltung ſich in die Hoͤhe hebt, in dieſer Stellung lange ruht, und ploͤtzlich in die erſchrecklichſten Spruͤnge ausbricht. Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den Augen, und jetzt merkte er, warum Taͤnzer beſſer honorirt werden als große Dichter, warum das Ballet beym diplomatiſchen Corps ein unerſchoͤpfli¬ cher Gegenſtand des Geſpraͤchs iſt, und warum oft eine ſchoͤne Taͤnzerin noch privatim von dem Miniſter unterhalten wird, der ſich gewiß Tag und Nacht abmuͤht, ſie fuͤr ſein politiſches Syſtem¬ chen empfaͤnglich zu machen. Bey'm Apis! wie groß iſt die Zahl der exoteriſchen und wie klein die Zahl der eſoteriſchen Theaterbeſucher! Da ſteht das bloͤde Volk und gafft und bewundert Spruͤnge und Wendungen, und ſtudiert Anatomie in den Stellungen der Lemiere, und applaudirt die Entre¬ chats der Roͤhniſch, und ſchwatzt von Grazie, Harmonie und Lenden — und keiner merkt, daß er in getanzten Chiffern das Schickſal des deut¬ ſchen Vaterlandes vor Augen hat.
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wenn er in allmaͤhliger Entfaltung ſich in die
Hoͤhe hebt, in dieſer Stellung lange ruht, und
ploͤtzlich in die erſchrecklichſten Spruͤnge ausbricht.
Dem jungen Manne fielen die Schuppen von den
Augen, und jetzt merkte er, warum Taͤnzer beſſer
honorirt werden als große Dichter, warum das
Ballet beym diplomatiſchen Corps ein unerſchoͤpfli¬
cher Gegenſtand des Geſpraͤchs iſt, und warum
oft eine ſchoͤne Taͤnzerin noch privatim von dem
Miniſter unterhalten wird, der ſich gewiß Tag
und Nacht abmuͤht, ſie fuͤr ſein politiſches Syſtem¬
chen empfaͤnglich zu machen. Bey'm Apis! wie
groß iſt die Zahl der exoteriſchen und wie klein die
Zahl der eſoteriſchen Theaterbeſucher! Da ſteht
das bloͤde Volk und gafft und bewundert Spruͤnge
und Wendungen, und ſtudiert Anatomie in den
Stellungen der Lemiere, und applaudirt die Entre¬
chats der Roͤhniſch, und ſchwatzt von Grazie,
Harmonie und Lenden — und keiner merkt, daß
er in getanzten Chiffern das Schickſal des deut¬
ſchen Vaterlandes vor Augen hat.
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/231>, abgerufen am 04.12.2024.
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