Ihr Auge verrieth einen krankhaft-schwärmerischen Tiefsinn, um ihren Mund lag strenge Frömmigkeit, doch schien mir's, als ob er einst sehr schön gewe¬ sen sey, und viel gelacht und viele Küsse empfangen und viele erwiedert habe. Ihr Gesicht glich einem Codex palympsestus, wo, unter der neuschwarzen Mönchsschrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬ loschenen Verse eines altgriechischen Liebes-Dichters hervorlauschen. Beyde Damen waren mit ihrem Begleiter dieses Jahr in Italien gewesen, und erzählten mir allerley Schönes von Rom, Florenz und Venedig. Die Mutter erzählte viel von den Raphaelschen Bildern in der Peterskirche; die Tochter sprach mehr von der Oper im Theater Fenice. Beyde waren entzückt von der Kunst der Improvisatoren. Nürnberg war der Damen Va¬ terstadt; doch von dessen alterthümlichen Herrlich¬ keiten wußten sie mir wenig zu sagen. Die hold¬ selige Kunst des Meistergesangs, wovon uns der gute Wagenseil die letzten Klänge erhalten, ist er¬ loschen, und die Bürgerinnen Nürnbergs erbauen
14
Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit, doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬ ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬ loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬ terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬ keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬ ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬ loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen
14
<TEI><text><body><divtype="poem"n="1"><p><pbfacs="#f0221"n="209"/>
Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen<lb/>
Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit,<lb/>
doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬<lb/>ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen<lb/>
und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem<lb/>
Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen<lb/>
Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬<lb/>
loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters<lb/>
hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem<lb/>
Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und<lb/>
erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz<lb/>
und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den<lb/>
Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die<lb/>
Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater<lb/>
Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der<lb/>
Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬<lb/>
terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬<lb/>
keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬<lb/>ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der<lb/>
gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬<lb/>
loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">14<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[209/0221]
Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen
Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit,
doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬
ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen
und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem
Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen
Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬
loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters
hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem
Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und
erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz
und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den
Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die
Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater
Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der
Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬
terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬
keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬
ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der
gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬
loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen
14
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/221>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.