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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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Ihr Auge verrieth einen krankhaft-schwärmerischen
Tiefsinn, um ihren Mund lag strenge Frömmigkeit,
doch schien mir's, als ob er einst sehr schön gewe¬
sen sey, und viel gelacht und viele Küsse empfangen
und viele erwiedert habe. Ihr Gesicht glich einem
Codex palympsestus, wo, unter der neuschwarzen
Mönchsschrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬
loschenen Verse eines altgriechischen Liebes-Dichters
hervorlauschen. Beyde Damen waren mit ihrem
Begleiter dieses Jahr in Italien gewesen, und
erzählten mir allerley Schönes von Rom, Florenz
und Venedig. Die Mutter erzählte viel von den
Raphaelschen Bildern in der Peterskirche; die
Tochter sprach mehr von der Oper im Theater
Fenice. Beyde waren entzückt von der Kunst der
Improvisatoren. Nürnberg war der Damen Va¬
terstadt; doch von dessen alterthümlichen Herrlich¬
keiten wußten sie mir wenig zu sagen. Die hold¬
selige Kunst des Meistergesangs, wovon uns der
gute Wagenseil die letzten Klänge erhalten, ist er¬
loschen, und die Bürgerinnen Nürnbergs erbauen

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Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen
Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit,
doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬
ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen
und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem
Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen
Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬
loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters
hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem
Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und
erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz
und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den
Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die
Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater
Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der
Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬
terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬
keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬
ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der
gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬
loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen

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[209/0221] Ihr Auge verrieth einen krankhaft-ſchwaͤrmeriſchen Tiefſinn, um ihren Mund lag ſtrenge Froͤmmigkeit, doch ſchien mir's, als ob er einſt ſehr ſchoͤn gewe¬ ſen ſey, und viel gelacht und viele Kuͤſſe empfangen und viele erwiedert habe. Ihr Geſicht glich einem Codex palympſeſtus, wo, unter der neuſchwarzen Moͤnchsſchrift eines Kirchenvater-Textes, die halber¬ loſchenen Verſe eines altgriechiſchen Liebes-Dichters hervorlauſchen. Beyde Damen waren mit ihrem Begleiter dieſes Jahr in Italien geweſen, und erzaͤhlten mir allerley Schoͤnes von Rom, Florenz und Venedig. Die Mutter erzaͤhlte viel von den Raphaelſchen Bildern in der Peterskirche; die Tochter ſprach mehr von der Oper im Theater Fenice. Beyde waren entzuͤckt von der Kunſt der Improviſatoren. Nuͤrnberg war der Damen Va¬ terſtadt; doch von deſſen alterthuͤmlichen Herrlich¬ keiten wußten ſie mir wenig zu ſagen. Die hold¬ ſelige Kunſt des Meiſtergeſangs, wovon uns der gute Wagenſeil die letzten Klaͤnge erhalten, iſt er¬ loſchen, und die Buͤrgerinnen Nuͤrnbergs erbauen 14

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/221>, abgerufen am 04.12.2024.