giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬ wunderung, viele geographische Kenntnisse, nannte der wißbegierigen Schönen alle Namen der Städte, die vor uns lagen, suchte und zeigte ihr dieselben auf meiner Landkarte, die ich über den Steintisch, der in der Mitte der Thurmplatte steht, mit echter Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr mit den Fingern suchte, als mit den Augen, die sich unterdessen auf dem Gesicht der holden Dame orientirten, und dort schönere Partieen fanden, als "Schierke" und "Elend." Dieses Gesicht ge¬ hörte zu denen, die nie reizen, selten entzücken, und immer gefallen. Ich liebe solche Gesichter, weil sie mein schlimmbewegtes Herz zur Ruhe lä¬ cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬ gleich schon in jener Vollblüthe, die zum Ehestande hinlänglich berechtigt. Aber es ist ja eine tägliche Erscheinung, just bey den schönsten Mädchen hält es so schwer, daß sie einen Mann bekom¬ men. Dies war schon im Alterthum der Fall,
giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬ wunderung, viele geographiſche Kenntniſſe, nannte der wißbegierigen Schoͤnen alle Namen der Staͤdte, die vor uns lagen, ſuchte und zeigte ihr dieſelben auf meiner Landkarte, die ich uͤber den Steintiſch, der in der Mitte der Thurmplatte ſteht, mit echter Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr mit den Fingern ſuchte, als mit den Augen, die ſich unterdeſſen auf dem Geſicht der holden Dame orientirten, und dort ſchoͤnere Partieen fanden, als „Schierke“ und „Elend.“ Dieſes Geſicht ge¬ hoͤrte zu denen, die nie reizen, ſelten entzuͤcken, und immer gefallen. Ich liebe ſolche Geſichter, weil ſie mein ſchlimmbewegtes Herz zur Ruhe laͤ¬ cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬ gleich ſchon in jener Vollbluͤthe, die zum Eheſtande hinlaͤnglich berechtigt. Aber es iſt ja eine taͤgliche Erſcheinung, juſt bey den ſchoͤnſten Maͤdchen haͤlt es ſo ſchwer, daß ſie einen Mann bekom¬ men. Dies war ſchon im Alterthum der Fall,
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[207/0219]
giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬
wunderung, viele geographiſche Kenntniſſe, nannte
der wißbegierigen Schoͤnen alle Namen der Staͤdte,
die vor uns lagen, ſuchte und zeigte ihr dieſelben
auf meiner Landkarte, die ich uͤber den Steintiſch,
der in der Mitte der Thurmplatte ſteht, mit echter
Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt
konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr
mit den Fingern ſuchte, als mit den Augen, die
ſich unterdeſſen auf dem Geſicht der holden Dame
orientirten, und dort ſchoͤnere Partieen fanden,
als „Schierke“ und „Elend.“ Dieſes Geſicht ge¬
hoͤrte zu denen, die nie reizen, ſelten entzuͤcken,
und immer gefallen. Ich liebe ſolche Geſichter,
weil ſie mein ſchlimmbewegtes Herz zur Ruhe laͤ¬
cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬
gleich ſchon in jener Vollbluͤthe, die zum Eheſtande
hinlaͤnglich berechtigt. Aber es iſt ja eine taͤgliche
Erſcheinung, juſt bey den ſchoͤnſten Maͤdchen haͤlt
es ſo ſchwer, daß ſie einen Mann bekom¬
men. Dies war ſchon im Alterthum der Fall,
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/219>, abgerufen am 04.12.2024.
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