Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

Bild:
<< vorherige Seite

giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬
wunderung, viele geographische Kenntnisse, nannte
der wißbegierigen Schönen alle Namen der Städte,
die vor uns lagen, suchte und zeigte ihr dieselben
auf meiner Landkarte, die ich über den Steintisch,
der in der Mitte der Thurmplatte steht, mit echter
Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt
konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr
mit den Fingern suchte, als mit den Augen, die
sich unterdessen auf dem Gesicht der holden Dame
orientirten, und dort schönere Partieen fanden,
als "Schierke" und "Elend." Dieses Gesicht ge¬
hörte zu denen, die nie reizen, selten entzücken,
und immer gefallen. Ich liebe solche Gesichter,
weil sie mein schlimmbewegtes Herz zur Ruhe lä¬
cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬
gleich schon in jener Vollblüthe, die zum Ehestande
hinlänglich berechtigt. Aber es ist ja eine tägliche
Erscheinung, just bey den schönsten Mädchen hält
es so schwer, daß sie einen Mann bekom¬
men. Dies war schon im Alterthum der Fall,

giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬
wunderung, viele geographiſche Kenntniſſe, nannte
der wißbegierigen Schoͤnen alle Namen der Staͤdte,
die vor uns lagen, ſuchte und zeigte ihr dieſelben
auf meiner Landkarte, die ich uͤber den Steintiſch,
der in der Mitte der Thurmplatte ſteht, mit echter
Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt
konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr
mit den Fingern ſuchte, als mit den Augen, die
ſich unterdeſſen auf dem Geſicht der holden Dame
orientirten, und dort ſchoͤnere Partieen fanden,
als „Schierke“ und „Elend.“ Dieſes Geſicht ge¬
hoͤrte zu denen, die nie reizen, ſelten entzuͤcken,
und immer gefallen. Ich liebe ſolche Geſichter,
weil ſie mein ſchlimmbewegtes Herz zur Ruhe laͤ¬
cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬
gleich ſchon in jener Vollbluͤthe, die zum Eheſtande
hinlaͤnglich berechtigt. Aber es iſt ja eine taͤgliche
Erſcheinung, juſt bey den ſchoͤnſten Maͤdchen haͤlt
es ſo ſchwer, daß ſie einen Mann bekom¬
men. Dies war ſchon im Alterthum der Fall,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="poem" n="1">
        <p><pb facs="#f0219" n="207"/>
giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬<lb/>
wunderung, viele geographi&#x017F;che Kenntni&#x017F;&#x017F;e, nannte<lb/>
der wißbegierigen Scho&#x0364;nen alle Namen der Sta&#x0364;dte,<lb/>
die vor uns lagen, &#x017F;uchte und zeigte ihr die&#x017F;elben<lb/>
auf meiner Landkarte, die ich u&#x0364;ber den Steinti&#x017F;ch,<lb/>
der in der Mitte der Thurmplatte &#x017F;teht, mit echter<lb/>
Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt<lb/>
konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr<lb/>
mit den Fingern &#x017F;uchte, als mit den Augen, die<lb/>
&#x017F;ich unterde&#x017F;&#x017F;en auf dem Ge&#x017F;icht der holden Dame<lb/>
orientirten, und dort &#x017F;cho&#x0364;nere Partieen fanden,<lb/>
als &#x201E;Schierke&#x201C; und &#x201E;Elend.&#x201C; Die&#x017F;es Ge&#x017F;icht ge¬<lb/>
ho&#x0364;rte zu denen, die nie reizen, &#x017F;elten entzu&#x0364;cken,<lb/>
und immer gefallen. Ich liebe &#x017F;olche Ge&#x017F;ichter,<lb/>
weil &#x017F;ie mein &#x017F;chlimmbewegtes Herz zur Ruhe la&#x0364;¬<lb/>
cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬<lb/>
gleich &#x017F;chon in jener Vollblu&#x0364;the, die zum Ehe&#x017F;tande<lb/>
hinla&#x0364;nglich berechtigt. Aber es i&#x017F;t ja eine ta&#x0364;gliche<lb/>
Er&#x017F;cheinung, ju&#x017F;t bey den &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;ten Ma&#x0364;dchen ha&#x0364;lt<lb/>
es &#x017F;o &#x017F;chwer, daß &#x017F;ie einen Mann bekom¬<lb/>
men. Dies war &#x017F;chon im Alterthum der Fall,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[207/0219] giebt. Ich entwickelte, zu meiner eigenen Ver¬ wunderung, viele geographiſche Kenntniſſe, nannte der wißbegierigen Schoͤnen alle Namen der Staͤdte, die vor uns lagen, ſuchte und zeigte ihr dieſelben auf meiner Landkarte, die ich uͤber den Steintiſch, der in der Mitte der Thurmplatte ſteht, mit echter Dozenten-Miene ausbreitete. Manche Stadt konnte ich nicht finden, vielleicht weil ich mehr mit den Fingern ſuchte, als mit den Augen, die ſich unterdeſſen auf dem Geſicht der holden Dame orientirten, und dort ſchoͤnere Partieen fanden, als „Schierke“ und „Elend.“ Dieſes Geſicht ge¬ hoͤrte zu denen, die nie reizen, ſelten entzuͤcken, und immer gefallen. Ich liebe ſolche Geſichter, weil ſie mein ſchlimmbewegtes Herz zur Ruhe laͤ¬ cheln. Die Dame war noch unverheirathet, ob¬ gleich ſchon in jener Vollbluͤthe, die zum Eheſtande hinlaͤnglich berechtigt. Aber es iſt ja eine taͤgliche Erſcheinung, juſt bey den ſchoͤnſten Maͤdchen haͤlt es ſo ſchwer, daß ſie einen Mann bekom¬ men. Dies war ſchon im Alterthum der Fall,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/219
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/219>, abgerufen am 17.05.2024.