Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie Gespenster bey'm dritten Hahnenschrey. Ich stieg wieder bergauf und bergab, und vor mir schwebte die schöne Sonne, immer neue Schönheiten be¬ leuchtend. Der Geist des Gebirges begünstigte mich ganz offenbar: er wußte wohl, daß so ein Dichter¬ mensch viel Hübsches wiedererzählen kann, und er ließ mich diesen Morgen seinen Harz sehen, wie ihn gewiß nicht Jeder sah. Aber auch mich sah der Harz, wie mich nur Wenige gesehen; in meinen Augenwimpern flimmerten eben so kost¬ bare Perlen, wie in den Gräsern des Thals. Mor¬ genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die rauschenden Tannen verstanden mich, ihre Zweige thaten sich von einander, bewegten sich herauf und herab, gleich stummen Menschen, die mit den Hän¬ den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengeläute einer verlornen Waldkirche. Man sagt, das seyen die Heerdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und rein gestimmt sind.
13
Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬ leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬ menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen, wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬ bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬ genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬ den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und rein geſtimmt ſind.
13
<TEI><text><body><divtype="poem"n="1"><pbfacs="#f0205"n="193"/><p>Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie<lb/>
Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg<lb/>
wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte<lb/>
die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬<lb/>
leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich<lb/>
ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬<lb/>
menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und<lb/>
er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen,<lb/>
wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich<lb/>ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in<lb/>
meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬<lb/>
bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬<lb/>
genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die<lb/>
rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige<lb/>
thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und<lb/>
herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬<lb/>
den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's<lb/>
wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer<lb/>
verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die<lb/>
Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und<lb/>
rein geſtimmt ſind.</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">13<lb/></fw></div></body></text></TEI>
[193/0205]
Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie
Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg
wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte
die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬
leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich
ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬
menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und
er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen,
wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich
ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in
meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬
bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬
genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die
rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige
thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und
herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬
den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's
wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer
verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die
Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und
rein geſtimmt ſind.
13
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/205>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.