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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie
Gespenster bey'm dritten Hahnenschrey. Ich stieg
wieder bergauf und bergab, und vor mir schwebte
die schöne Sonne, immer neue Schönheiten be¬
leuchtend. Der Geist des Gebirges begünstigte mich
ganz offenbar: er wußte wohl, daß so ein Dichter¬
mensch viel Hübsches wiedererzählen kann, und
er ließ mich diesen Morgen seinen Harz sehen,
wie ihn gewiß nicht Jeder sah. Aber auch mich
sah der Harz, wie mich nur Wenige gesehen; in
meinen Augenwimpern flimmerten eben so kost¬
bare Perlen, wie in den Gräsern des Thals. Mor¬
genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die
rauschenden Tannen verstanden mich, ihre Zweige
thaten sich von einander, bewegten sich herauf und
herab, gleich stummen Menschen, die mit den Hän¬
den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's
wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengeläute einer
verlornen Waldkirche. Man sagt, das seyen die
Heerdenglöckchen, die im Harz so lieblich, klar und
rein gestimmt sind.

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Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie
Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg
wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte
die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬
leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich
ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬
menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und
er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen,
wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich
ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in
meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬
bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬
genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die
rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige
thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und
herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬
den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's
wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer
verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die
Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und
rein geſtimmt ſind.

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[193/0205] Die Sonne ging auf. Die Nebel flohen, wie Geſpenſter bey'm dritten Hahnenſchrey. Ich ſtieg wieder bergauf und bergab, und vor mir ſchwebte die ſchoͤne Sonne, immer neue Schoͤnheiten be¬ leuchtend. Der Geiſt des Gebirges beguͤnſtigte mich ganz offenbar: er wußte wohl, daß ſo ein Dichter¬ menſch viel Huͤbſches wiedererzaͤhlen kann, und er ließ mich dieſen Morgen ſeinen Harz ſehen, wie ihn gewiß nicht Jeder ſah. Aber auch mich ſah der Harz, wie mich nur Wenige geſehen; in meinen Augenwimpern flimmerten eben ſo koſt¬ bare Perlen, wie in den Graͤſern des Thals. Mor¬ genthau der Liebe feuchtete meine Wangen, die rauſchenden Tannen verſtanden mich, ihre Zweige thaten ſich von einander, bewegten ſich herauf und herab, gleich ſtummen Menſchen, die mit den Haͤn¬ den ihre Freude bezeigen, und in der Ferne klang's wunderbar geheimnißvoll, wie Glockengelaͤute einer verlornen Waldkirche. Man ſagt, das ſeyen die Heerdengloͤckchen, die im Harz ſo lieblich, klar und rein geſtimmt ſind. 13

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/205>, abgerufen am 17.05.2024.