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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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rende Wasser jagten ängstlich die Gespenster der
Verstorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten
im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬
schender Peitsche, lief ein buntscheckiger Harlequin,
und dieser war ich selbst -- und plötzlich, aus den
dunkeln Wellen, reckten die Meerungethüme ihre
mißgestalteten Häupter, und langten nach mir mit
ausgebreiteten Krallen, und vor Entsetzen er¬
wacht' ich.

Wie doch zuweilen die allerschönsten Mährchen
verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter,
wenn er die schlafende Prinzessin gefunden hat, ein
Stück aus ihrem kostbaren Schleier heraus schnei¬
den; und wenn durch seine Kühnheit ihr Zauber¬
schlaf gebrochen ist, und sie wieder in ihrem Pal¬
last auf dem goldenen Stuhle sitzt, muß der Rit¬
ter zu ihr treten und sprechen: Meine allerschönste
Prinzessin, kennst du mich? Und dann antwortet
sie: Mein allertapferster Ritter, ich kenne dich
nicht. Und dieser zeigt ihr alsdann das aus ihrem
Schleyer heraus geschnittene Stück, das just in

rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der
Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten
im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬
ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin,
und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den
dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre
mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit
ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬
wacht' ich.

Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen
verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter,
wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein
Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬
den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬
ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬
laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬
ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte
Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet
ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich
nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem
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[158/0170] rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬ ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin, und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬ wacht' ich. Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter, wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬ den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬ ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬ laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬ ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem Schleyer heraus geſchnittene Stuͤck, das juſt in

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/170>, abgerufen am 30.11.2024.