rende Wasser jagten ängstlich die Gespenster der Verstorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬ schender Peitsche, lief ein buntscheckiger Harlequin, und dieser war ich selbst -- und plötzlich, aus den dunkeln Wellen, reckten die Meerungethüme ihre mißgestalteten Häupter, und langten nach mir mit ausgebreiteten Krallen, und vor Entsetzen er¬ wacht' ich.
Wie doch zuweilen die allerschönsten Mährchen verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter, wenn er die schlafende Prinzessin gefunden hat, ein Stück aus ihrem kostbaren Schleier heraus schnei¬ den; und wenn durch seine Kühnheit ihr Zauber¬ schlaf gebrochen ist, und sie wieder in ihrem Pal¬ last auf dem goldenen Stuhle sitzt, muß der Rit¬ ter zu ihr treten und sprechen: Meine allerschönste Prinzessin, kennst du mich? Und dann antwortet sie: Mein allertapferster Ritter, ich kenne dich nicht. Und dieser zeigt ihr alsdann das aus ihrem Schleyer heraus geschnittene Stück, das just in
rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬ ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin, und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬ wacht' ich.
Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter, wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬ den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬ ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬ laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬ ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem Schleyer heraus geſchnittene Stuͤck, das juſt in
<TEI><text><body><divtype="poem"n="1"><p><pbfacs="#f0170"n="158"/>
rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der<lb/>
Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten<lb/>
im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬<lb/>ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin,<lb/>
und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den<lb/>
dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre<lb/>
mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit<lb/>
ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬<lb/>
wacht' ich.</p><lb/><p>Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen<lb/>
verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter,<lb/>
wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein<lb/>
Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬<lb/>
den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬<lb/>ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬<lb/>
laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬<lb/>
ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte<lb/>
Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet<lb/>ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich<lb/>
nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem<lb/>
Schleyer heraus geſchnittene Stuͤck, das juſt in<lb/></p></div></body></text></TEI>
[158/0170]
rende Waſſer jagten aͤngſtlich die Geſpenſter der
Verſtorbenen, ihre weißen Todtenhemde flatterten
im Winde, hinter ihnen her, hetzend, mit klat¬
ſchender Peitſche, lief ein buntſcheckiger Harlequin,
und dieſer war ich ſelbſt — und ploͤtzlich, aus den
dunkeln Wellen, reckten die Meerungethuͤme ihre
mißgeſtalteten Haͤupter, und langten nach mir mit
ausgebreiteten Krallen, und vor Entſetzen er¬
wacht' ich.
Wie doch zuweilen die allerſchoͤnſten Maͤhrchen
verdorben werden! Eigentlich muß der Ritter,
wenn er die ſchlafende Prinzeſſin gefunden hat, ein
Stuͤck aus ihrem koſtbaren Schleier heraus ſchnei¬
den; und wenn durch ſeine Kuͤhnheit ihr Zauber¬
ſchlaf gebrochen iſt, und ſie wieder in ihrem Pal¬
laſt auf dem goldenen Stuhle ſitzt, muß der Rit¬
ter zu ihr treten und ſprechen: Meine allerſchoͤnſte
Prinzeſſin, kennſt du mich? Und dann antwortet
ſie: Mein allertapferſter Ritter, ich kenne dich
nicht. Und dieſer zeigt ihr alsdann das aus ihrem
Schleyer heraus geſchnittene Stuͤck, das juſt in
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/170>, abgerufen am 30.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.